Ines Witka: Perle um Perle

Leseprobe


Während der Inhaber sich umdrehte und das Schmuckstück aus dem Schaufenster holte, sah Margarete sich in dem schlichten und eleganten Verkaufsraum um. Die Einrichtung stammte wohl aus den siebziger Jahren. Vor einem Tisch mit einer gläsernen Platte und einer Ausziehschublade, in der Saphirbänder, Blütenbroschen aus Granaten, emaillierte Medaillons und andere antike Schmuckstücke ausgestellt waren, standen zwei bequeme Sessel, die einen Polsterstuhl einrahmten. In Nussbaumschränke waren Vitrinen eingelassen, die silbernes Besteck, Teile eines Kaffeeservices und Porzellanfiguren enthielten. Von mehreren Staffeleien leuchteten Ölgemälde, angestrahlt vom warmen Licht einzelner Lampen. Die sich teilweise überlagernden Teppiche glänzten seidig.

 

Mit der Kette in der Hand drehte sich Steinfels zu ihr hin: »Die Perlen haben Mademoiselle Elsa, einer berühmten Kurtisane, gehört. «

Sie hatte Mühe, sich auf seine Sätze zu konzentrieren, denn den Duft erkannte sie auch nach mehr als dreizehn Jahren sofort: Ihr Vater hatte nach derselben Mischung von exotischen Gewürzen und Hölzern gerochen.

»Ja, nein«, stotterte sie. »Ich meine, will wissen, was kostet die Kette? Der Preis? … Sie ist sicher teuer.«

»Treten Sie hier vor den Spiegel. Er gehörte der Mätresse König Ludwig des XIV.« Sie folgte der Aufforderung, zerrte nervös an ihrem Mantel.

»Sie erlauben?« Mit diesen höflich gemurmelten Worten half er ihr aus dem Kleidungsstück und legte ihr mit respektvoller Vorsicht die Perlenkette an. »Sie ist selten und kostbar«, sprach er leise direkt neben ihrem Ohr.

 

Sie starrte ihr Spiegelbild an. Das Schmuckstück schmiegte sich nicht einfach um ihren Hals, nein, es brannte sich in ihrer Haut fest. Das Blut schoss durch ihre Adern, sammelte sich unter der Kette und zeigte sich als rote Seen auf weißer Haut. Schweißperlen krochen in Rinnsalen ihren Rücken hinunter und wieder musste sie an ihren Vater denken. Obwohl sie schwitzte, war ihr kalt. Atmen, atmen, ruhig atmen war das Einzige, das gegen diese Attacken half.

 

Der Antiquitätenhändler, der sie ebenfalls im Spiegel betrachtete, schien nichts zu merken. Er fuhr in leicht dozierendem Ton fort: »In der Natur gibt es keine Doppelgänger. Um so ein ebenmäßiges Schmuckstück zu fertigen, bei dem die Perlen in der Tönung, der Größe und der Form so perfekt zueinanderpassen, muss ein Goldschmied lange suchen. Wie gesagt, es sind keine Zuchtperlen. Die wahre Qualität erkennen Sie am Lüster, diesem warmen Schimmer der Perle. Hier sind es die Farben des Regenbogens, obwohl die Grundfarbe grau ist. Dies alles zusammen ergibt den Wert.«

Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »So etwas Schönes hat natürlich seinen Preis. Die Kette kostet sechsunddreißigtausend Euro.«

 

Sechsunddreißigtausend Euro, sechsunddreißigtausend, sechsunddreißigtausend Euro echote es in ihrem Kopf. Wie naiv von ihr, natürlich, was für eine unermesslich hohe Summe. Lächerlich zu denken, dass ihre zweitausend Euro reichen könnten. Egal wie lange sie sparte, es würde niemals reichen. Sechsunddreißigtausend Euro ließen die Flecken an ihrem Hals unerträglich jucken, sechsunddreißigtausend Euro ließen das Collier an der feuchten Haut festkleben, sechsunddreißigtausend Euro zeigten ihr, wie ahnungslos sie war.

 

Sie musste sich beherrschen, die Kette nicht einfach wegzureißen, ungeschickt fummelte sie an dem Blumenverschluss herum. Als es ihr endlich gelang, ihn zu öffnen, legte sie das wertvolle Stück dem Besitzer in die geöffnete Hand. Dabei lächelte sie hilflos, senkte die Lider und die aufsteigenden Tränen ließen ihre Stimme kratzig klingen: »Schade. Danke. Nein. Ehrlich, das ist zu viel. Ich meine, für mich ist sie einfach zu teuer. So schade.«

»Was haben Sie gefühlt, als die Perlen Ihre Haut berührten?«

Magaretes Blick zuckte nach oben. Einen Moment war sie versucht zu sprechen, holte tief Luft, zögerte, schwieg dann doch.

 

Nie würde sie jemandem von der aufsteigenden Panik erzählen, die sie jedes Mal erfasste, wenn sie die Perlen betrachtete. Nichts würde sie über das Feuer der Angst sagen, das über sie brandete, als sie in den Spiegel geblickt hatte. Nichts darüber, dass etwas ganz und gar nicht mehr stimmte, seitdem sie die Meeresjuwelen zum ersten Mal im Schaufenster entdeckt hatte. Stattdessen griff sie nach ihrem Mantel.

 

Der Eigentümer der Kette wandte sich ab und nahm ein silbernes Trinkgefäß aus einer Vitrine, das er auf ein Toilettentischchen mit hohen leicht geschweiften Beinen stellte: »Aus solchen Schalen wurde Champagner getrunken. Diese hat Lola Montez gehört, der Geliebten König Ludwigs I. von Bayern.«

Er griff nach einer Schere. Die Kette ließ er Perle für Perle durch seine Finger gleiten: »Ich mache Ihnen einen Vorschlag…«

 

»Warum machen Sie das?«, fragte Margarete und wickelte sich beunruhigt eine Haarsträhne um den Finger. Ohne Steinfels´ Versuche zu beachten, Blickkontakt mit ihr aufzunehmen, starrte sie weiterhin auf die winzige Schere, wie sie erneut die Schnur durchtrennte. Als die zweite Perle in die Champagnerschale fiel, war wieder der helle, silberne Ton zu hören. Mit einer fahrigen Bewegung ließ sie ihre Haare los, ihre Stimme klang fein und dünn in ihren Ohren: »Die Kette, Sie machen sie kaputt.«

»Ich bin ein Sammler. Alles, was Sie hier sehen, hat einmal einer Mätresse oder einem großartigen Liebhaber gehört. Ich besitze Stücke von Giacomo Casanova, Madame Dubarry und Madame de Pompadour, um einige bekannte Namen zu nennen.« Mit einer ausladenden Geste wies er in den Raum: »Die Damen und Herren sind tot, ich kann sie nicht mehr befragen, was sie fühlten, wie sie dachten, was sie antrieb.«

 

Sein Benehmen ängstigte sie. Dennoch bewegte sie sich nicht. Leise stotterte sie, dass sie gehen müsse. Dabei schaute sie weiter auf seine Hände, die nicht innehielten. Schneller und schneller kugelten nun die Perlen übereinander und füllten die Schale mit ihrem Schimmer.

»Aber Sie, Sie leben und ...« Er trennte die vorletzte graue Kugel ab. »Ich frage mich, warum diese Perlen Sie so beschäftigen. Verraten Sie es mir, eine Perle für diese Auskunft.«

 

Die letzte Perle fiel zu den anderen, und er schaute sie durch die leicht bläulich getönten Gläser seiner Brille erwartungsvoll an. Was er sagte, war unsinnig. Verwirrt und misstrauisch wollte sie seinen Vorschlag zurückweisen. Doch ohne ihr Zutun fuhr ihre Hand zum Hals, berührte die Stelle, an der die Kette gelegen hatte, und plötzlich spürte sie, wie sehr sie sie besitzen wollte.

 

Nur durch sie konnte sie die Wahrheit erfahren, da war sie sich sicher. Ihr Widerstand bekam einen feinen Riss, der erste Sprung im Eis. Was wollte er hören? Sollte sie diesem Fremden ihre wahren Gefühle offenbaren? Niemals. Ob er sich täuschen lassen würde? Sie dachte an die Perlentaucher, die für die Perlen ihr Leben riskierten, und er, Steinfels, wollte nichts weiter als einen Satz.

Schon bot er ihr eine Perle auf der ausgestreckten Hand an: »Wie viele Perlen sind es wohl? Vierzig? Wagen Sie etwas, erzählen Sie von sich. Für jede Geschichte eine Perle.«

 

Ihr Herz setzte angesichts der Erkenntnis, die ihr schlagartig kam, für einen Augenblick aus: Dies war einer der Momente im Leben, in dem der Alltag aufbrach. Hier bot sich eine Chance auf Veränderung. Dennoch, die Anzahl erschreckte sie, bedeutete dies, dass sie viel von ihr preisgeben müsste. Statt Widerstand aufzubauen, klaffte der feine Riss in ihrem Panzer aus Eis weiter auseinander: »Ich brauche Bedenkzeit. Reden ist nicht meine Stärke.«

 

 

Ihre Hand glitt vorsichtig übers Dekolleté. Bei dem Wert des Schmucks müsste auch sie einen hohen Preis bezahlen. Mit einem entschiedenen »Nein!« wollte sie seinen Vorschlag zurückweisen. Jetzt. Stattdessen hörte sie sich sagen: »Ich könnte donnerstags.«

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke