Leseproben aus dem Roman "Am Rande des Irrsinns" (Frühjahr 2025)

»Gestorben ist meine Mutter nicht. Sie ist verschwunden. Als ich vielleicht zwei oder drei war. Das weiß ich, weil ich mich auch jetzt noch an sie erinner. Groß, schwarzhaarig, Pagenschnitt. Schmale Taille, breite Hüften und ein freundliches Gesicht. Meine Mama. Jedes Mal, wenn ich sie als Kind erwähnte, haute mir Christa auf den Kopf – mit der Begründung, ich löge wie eine Hundsfott, schon seit ich gehen könne. Ihr zufolge trug ich noch Windeln, als ich meine Mutter das letzte Mal sah, also könne ich mich nun wirklich nicht an sie erinnern. Und dass sie gestorben sei, nicht verschwunden. Abgekratzt! Und ich weinte während ihrer Tirade. Ich verstand nicht, warum sie ihre Schwester so sehr hasste, dass sie deren Kind schlug, nur weil es die Erinnerung an seine Mutter hochhielt. Ich weinte bitterlichst, sodass ich mir sogar jetzt noch leid tu, wenn ich daran denk. Ich weinte, bis ich um die fünf Jahre alt war. Dann nicht mehr.«

[...]

 

»Ariane zieht ihre Jeans vom Stuhl und schlüpft anschließend so hinein, dass ihr Arsch nur halb bedeckt ist. Mit der rechten Hand fährt sie sich in die Unterhose, zieht die Hand flink wieder heraus und riecht daran. Ein kräftiger Geruch. Genau richtig. Ihrer Peinigerin macht der kräftige Muschigeruch Angst. Sie riecht ganz und gar nach leidenschaftlichem Sex ... Ariane schüttelt den Kopf. Sie darf nicht an den Sex und das Mädchen denken. Keinesfalls, denn jetzt muss sie sich mit ihrer nicht ganz dichten Rabenstiefmutter auseinandersetzen, die sie am frühen Nachmittag zum Morgenkaffee einlud. Nicht nur, dass das sicher nichts Gutes heißen kann, schlimmer noch, so eine Einladung ist zum Fürchten. Entschlossen zieht sie den Reißverschluss der Jeans zu.«

[...]

 

»Christa steht jählings auf und holt mit der Zigarette in der Hand gegen Ariane aus – was heißt holt aus! – sie schießt geradezu auf Ariane los, die im letzten Moment ausweicht, sodass nur die Zigarette ihre Hand streift. Und die Tante prescht wie ein Stier geradewegs in die Vitrine. Sie kann sich nicht mehr einbremsen und ihre Klauen mit den gespitzten Fingern erwischen den Brief nicht, sondern greifen durch die Glasscheibe ins Leere.

 

Ariane verlässt während ihres Gebrülls das Haus. Die alte Hundsfott hat sich halt selbst geschnitten. Sie ist in die Glastür gesaust und hat sich in die Finger geschnitten. Wahrscheinlich sieht es ziemlich blutig aus. Vielleicht hätte man auch ihr eine gehörige Portion Ohnmacht verabreichen sollen. Nicht erst jetzt.«

 

[...]

 

»Vielleicht denken Sie jetzt nachsichtig und wohlwollend, dass diese junge Frau (fünfundzwanzig bin ich) doch nicht etwas derart Schreckliches getan haben kann. Sie hat niemanden umgebracht und seine Leiche versteckt, sodass sie nun einen ganzen Roman darüber schreiben muss. Oh ja, glauben Sie mir, diese junge Frau hat genau das getan. Sie hat jemanden umgebracht, seine Leiche entsorgt und die Tat vertuscht, denn über sowas spricht man nicht. Sie kann jetzt nur noch einen Roman drüber schreiben.«