...Ein nicht unbeträchtlicher Teil des Buchs ist Ernst Jandl gewidmet und viel kreativer ausgefallen, als der Begriff Essay vermuten ließe. Hier werden Dinge an ihren Namen und Definitionen gemessen, wird Sprache so lange wörtlich genommen, bis sie fremd wird. Wörter haben einen Magnetismus zu anderen Wörtern, sie assoziieren sich gegenseitig herbei, man kann sich kaum wehren. Aber den umgekehrten Weg kann man nehmen: Assoziation auf die Spitze treiben. „lies nicht mehr“ sagt Paul Celan, „– schau! Schau nicht mehr – geht!“ Nichts mehr entziffern wollen, selber losgehen: eine Aufforderung zu radikaler Subjektivität.
„Sprachpolizei und Spielpolyglotte“ ist hemmungslos subjektiv. In ihren Essays denkt Tawada darüber nach, was die katholische Kirche mit Rotkäppchen gemein hat, ob Kleists Erzählung „Die Marquise von Null“ heißen sollte und warum im Alphabet die Wüste bewahrt ist. In ihren Interpretationen übersetzt sie nicht nur Celans Buchstaben in Zahlen und Goethes „Wahlverwandtschaften“ in Chemie, sondern trotzt noch dem Vergleich mit dem japanischen Schriftbild Bedeutung ab. Ihre eigene Belletristik beginnt, als eine Dame namens Slavia in Berlin an einer Graz bewachsenen Baustelle aus dem Texas steigt.
„Angenehm betäubt vom persischen Wein ließ ich die Wörter den Abhang hinunterrollen“, heißt es in der Erzählung „An der Spree“. Tawadas Essays sind zum Lautlesen geschaffen. Ihrer Spiel- und Experimentierfreude haftet nichts Schweres, Verkopftes an, das ist die größte Leistung dieser genau beobachtenden Prosa. Angenehm betäubt von den kurzen Sätzen, den einfachen Gedanken lässt man den Text rollen. Noch die albernsten Wortspiele schaffen in ihrer Häufung eine vibrierende Atmosphäre, eine Süffigkeit der Stimmungen, die zu dem Erzählten nicht immer im Zusammenhang steht. In dieser Manipulierbarkeit liegt einen Erkenntnis von Tawadas Arbeit.
Die entschiedene Betonung der Ich-Perspektive ist konsequent bei einem Buch, das Subjektivität zur Methode macht. Trotzdem wirken die vielen Verweise auf Konferenzen, Vorträge und akademische Meriten eitel. Auch so schimmern Tawadas Kompetenzen durch. Slavias Taxifahrt ist die automobile Kurzfassung von Finnegans Wake, ganz undenkbar wäre das Kunstverständnis der Autorin ohne Walter Benjamins Begriff von Geschichte und Schrift. Unterhaltsamer, fasslicher, sinnlicher bekommt man ihn allerdings selten geboten.
(Badische Zeitung 18.05.2007)
„Mandelmus und Jandelmus, emeth und meth: kleine Buchstaben entscheiden manchmal über Sinn und Unsinn, Leben und Tod. Als Rabbi Löw den Golem erschuf, schrieb er ihm das Wort „emeth“ auf die Stirn: „Die Wahrheit“. Und der Golem lebte. Um ihm das Leben zu nehmen, muss man nur das erste e wegnehmen, dann heißt das Wort „meth“: tod. Fantasievoll, aufmerksam mit allen Sinnen auf die Sprache gerichtet sind die neuen Essays von Yoko Tawada. Sie sieht Wörter und die Wörter in den Wörtern („la vie“ in „Klavier“), sie zählt die Auslassungspunkte in Celans Gedichten, sinniert über Zwang und Regeln der Sprachen, denkt über das O bei Kleist und in seinen japanischen Übersetzungen nach.“
(Georg Patzer, Stuttgarter Zeitung, 11.05.2007)
Die Veröffentlichungen der Deutsch schreibenden Japanerin Yoko Tawada haben ein festes Maß, meist um die 150 Seiten; es sind Broschuren, liebevoll illustriert wie kleine Kostbarkeiten. Im neusten Band hat die Autorin ihre literarischen Essays unter dem Titel "Sprachpolizei und Spielpolyglotte" zusammengefasst. Aber zunächst beginnt sie mit einer Standortbestimmung, wie wir sie schon aus ihren anderen Werken kennen: "Ich bin in Europa" schreibt Yoko Tawada unter der Überschrift "An der Spree", und sie verwirrt sofort den Leser, indem sie fortfährt, "ich weiß nicht, wo ich bin. Eines ist sicher: der Nahe Osten ist von hier aus ganz nah. Der Ort, von dem aus der Nahe Osten ganz nah ist, heißt Europa. Als ich noch im Fernen Osten lebte, war der Nahe Osten ganz fern.
Dann setzt ein Feuerwerk von Sprachspielen ein: zum Beispiel im Vergleich von japanischer und deutscher Grammatik - die eine scheinbar ohne Regeln, die andere gespickt mit Vorschriften; sie untersucht die Länge von Sätzen des von ihr hochgeschätzten Heinrich von Kleist im Original und in der japanischen Übersetzungen, wo sie zerteilt und zergliedert werden in mehrere Sätze; die Unübersetzbarkeit literarischer Texte offenbart ihr ein weiteres Gesicht des Originals, das heißt, da, wo das Original durch die Übersetzung Substanz zu verlieren scheint, gewinnt es gleichzeitig etwas Neues, Unerwartetes. Yoko Tawada befasst sich in einem ihrer Essays mit der Fremdheit von Vornamen und ihrer Aussagekraft; oder sie fragt gespielt naiv, "Du sagst, Du möchtest eine Tafel Schokolade haben. Möchtest Du eigentlich eine Tafel haben oder eine Schokolade?"
Immer wieder verblüfft die Autorin durch einen Scharfsinn eigener Art. Sie nimmt wörtlich, was die Sprache an Bildern liefert, und befragt den Hintersinn solcher Bilder. Die Demontage von Klischees gehört zu ihren Lieblingsspielen. Die Deutschen glauben, ein klares Bild von Japan zu haben, in dem sie Futon und Sushi als die Hauptmerkmale dieser Kultur begreifen. Tatsächlich sieht es in japanischen Häusern ganz anders aus. Die Ästhetik der erhabenen Schlichtheit, die der Europäer so fest mit japanischer Kultur verbindet, ist dort selten zu finden, stattdessen sind die meist kleinen Wohnungen voll gerümpelt mit allerlei Kitsch. Die Kultur der Sushis stammt zwar aus ihrem Heimatland, aber sie ist nur ein geringer Teil einer sehr vielfältigen Esspalette. Eine der beliebtesten Speisen heißt "Katsu-Karee" und ist Wiener Schnitzel auf Reis mit Curry-Sauce - also weit entfernt von der Eleganz eines Sushi.
Mehrere Essays hat die Autorin den Problemen der Gedichtinterpretation gewidmet. Vor allem Paul Celan beschäftigt sie. Was bedeuten in seinen Gedichten die Zeilen, die nur aus einer bestimmten Anzahl von Punkten bestehen, ohne Worte. Sollen die Punkte Worte verstecken und wenn, dann welche, oder verweigern sie bewußt jedweden Sinn? Die graphischen Zeichen wecken ihre Neugier ebenso wie der Klang von Vokalen, besonders des 'o'. Paul Celans "Niemandsrose" erschließt sie sich, indem sie mit einem botanischen Lexikon darin spazierengeht, da die Pflanzen in seinen Gedichten für sie weder Abbildung der Natur noch Metapher für eine abstrakte Angelegenheit sind.
Nicht weniger subtil zerlegt sie Else Lasker-Schülers Gedicht "mein blaues Klavier".Zunächst entdeckt sie im Wort 'Klavier' das französische 'la vie' und schon stellt sich eine Kette von neuen Assoziationen ein, bis hin zu der Festlegung des Klaviers als 'blau' - und Tawada fragt sich, könnte dahinter heute nicht der 'Blues' stehen, man sollte also das Gedicht als Blues singen.
Abgeschlossen wird der Band durch eine Reise nach Sachalin, das einst zu Japan gehörte, und noch heute von vielen Japanern bewohnt ist. Auch hier wieder trifft die Besucherin eine vertraut fremde Welt. Die Essays laden ihrerseits ein, sich auf Erkundungsreisen zu begeben, sich überraschen zu lassen und die Welt der Worte und Vorstellungen mit frischen, ungetrübten Augen zu betrachten - wenn man bereit ist, sich auf das polyglott vertrackte Spiel der Autorin einzulassen.
(Lerke von Saalfeld, SWR2 Buchkritik, 24.05.2007)