Mit Wörtern werden faszinierend neue Bilder gezeichnet und aus kanonisierten Gemälden poetische Geschichten geschrieben. Yoko Tawada verwebt flüchtige Geschichten und tiefgreifende Erfahrungen im Großstadtgetümmel spielerisch zu einem schlüssigen poetischen Roman. Begegnungen mit Träumen und Erinnerungen, Menschen und Tieren lassen die Protagonist_innen auf ihrem Weg nicht unberührt.
Bürgerliche Heterosexualität wird ausgestellt und queeres Leben auf dem Balkon entworfen. Nicht nur für Hamburgsehnsüchtige – ein sprachlicher und sinnlicher Genuss! Zudem ist das Buch sehr schön gestaltet und der Text mit Fotos von Gemälden und der Hafenstadt hinterlegt.“ (Waltraud Ernst, Weiberdiwan, 2017)
Der Text erzählt von einem Ich und ihren Freunden Elsa und Chris, mit denen sie von Hamburg aus durch die Welt zieht. Eine eindeutige Handlung lässt sich aber gar nicht rekapitulieren, weil der Text von fließenden Bewegungen geprägt ist. Mitten in den einzelnen Sätzen öffnen sich Identitäten durch sprachliche Verwandlungen.
Die Unterscheidung von Mensch, Tier und Ding wird ebenso aufgelöst wie die Konturen von Personen oder die Grenzen zwischen Ländern und Kulturen, die sich zu Serien von Nachbarschaften fügen. „Ich nenne Elsa Elbe, wenn der Hafen seine Leselampe anschaltet“, heißt es etwa im „Ersten Nachtgesang“. Bewegung der Einfälle, Metamorphosen der Figuren, Entstellung des gewöhnlichen Blicks: Überzeugend, weil performativ gelungen inszeniert Tawada surrealistische Schreibformen. Sie folgen dem Prinzip der Leichtigkeit als heiterer Entstellung:
Hier ein Libellenengel, dort ein/ Ameisenlöwe. Ein Fest der/ Mischwesen im Lexikon der Luft./ Ein launischer Wind blättert in meinem/ Skizzenbuch und nimmt es mit./ Papyrus, Papillon./ Der Schmetterling aus Papier/ fliegt auf, ich hinterher/ mit gestreckten Armen./ Ein Marienkäfer landet auf dem Rücken/ meiner Hand. Seine Maske/ macht aus dem Rücken/ ein Gesicht der Groteske.
Eine transnationale Poetik der Gegenwartsliteratur: In Yoko Tawadas Ein Balkonplatz für flüchtige Abende nimmt sie faszinierende Gestalten an.
(David Wachter, literaturkritik.de, März 2017)