Yoko Tawada: Abenteuer der deutschen Grammatik

Leseproben


Die zweite Person Ich

Als ich dich noch siezte,

sagte ich ich und meinte damit

mich

Seit gestern duze ich dich,

weiß aber noch nicht,

 

wie ich mich umbenennen soll


Die zweite Person

Die zweite Person
Du hast ein Geschlecht.
„Du“ hat kein Genus.
Du da!
Meinst du mich?
Ja!
Dann ist dein „Du“ heute weiblich.
„Ich“ hat kein Genus.
Und das ist ein Genuss für mich.
„Ich!“ sagt mein Freund, der einen Freund hat.
Er ist ein Ich, wenn sein Mund sich bewegt.
Er ist ein Du, wenn seine Ohren mir zuhören.
Egal ob dich eine Sie oder ein Er lieben,
immer bist du eine zweite Person und geschlechtslos.


Wortstellung

Das Verb spielt die zweite Geige

Wenn die Melodie zitiert ist

hat es den letzten Ton

An einem gewöhnlichen Tag steht das Subjekt vorne

Jeder kann anfangen aber wer steht am Ende

Wenn ein anderer den Kopf macht

muss das Subjekt

nach hinten rücken

Die Reihenfolge und die Hierarchie sind zweierlei

 

Der Rhythmus kennt keine Korruption


Passé Composé

Ein Kompott

Für uns alle dasselbe

Für mich für dich für ihn für sie denn

Es ist gegessen und vergessen.

Nur die Haltung des Habens unterscheidet sich 

Zwischen mir und ihm und ihr und sie und uns

Bitte nicht zu viel „und“!

Und das Haben zeigt bei jedem ein anderes Ende

Ich bleibe eher offen

Du bis streng verschlossen

Er und sie haben Hüte auf dem Kopf

Gemeinsam sind die eingeatmete Luft und

Die durchgemachte Nacht

Wir lasen nie das gleiche Buch, aber

Gelesen haben wir alle oder

Ich „gelese", du „gelesest"?

Das perfekt Vergangene ist durchkomponiert und vereinfacht

Warum sind wir aber so vielfältig in der Gegenwart?

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke