Yoko Tawada: Verwandlungen

Leseprobe


aus der zweiten vorlesung

Der Schriftkörper eines Ideogrammes ist nicht rätselhaft, denn er zeigt, was er bedeutet. Ich kann ruhig meinen Blick darauf verweilen lassen. Es besteht keine Gefahr, in Unsinn zu stürzen, auch wenn ein Ideogramm meistens mehrere Bedeutungen hat, die sich im Laufe der Geschichte in ihm versammelt haben. Es kommt auch vor, dass die verschiedenen Bedeutungen eines Schriftzeichens sich gegenseitig widersprechen oder nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. Ein Zeichen ist ein Bild, das mehrmals übermalt wurde.

 

Dagegen ist jeder Buchstabe des Alphabets ein Rätsel. Was will zum Beispiel ein A mir sagen? Je länger ich einen Buchstaben anblicke, desto rätselhafter und lebendiger wird er: lebendig, weil er kein Zeichen ist, das für ein Signifikat steht. Er ist weder ein Abbild noch ein Piktogramm. Man darf ihn nicht anschauen, sondern muss ihn sofort in einen Laut übersetzen und seinen Körper verschwinden lassen. Sonst wird er lebendig, springt aus dem Satz und verwandelt sich in ein Tier.

 

Die Buchstaben des Alphabets sind unfassbare Phantasietiere. Weil sie als Einzelwesen von jeder Bedeutung frei sind, sind sie unberechenbar. Allein durch Kombinationen entstehen Wörter. [...]

 

Es kann gefährlich sein, einen Buchstaben in die Welt zu setzen, denn der Autor oder genauer gesagt der Setzer des Textes kann nicht wissen, was aus ihm wird. Man schreibt ein B, es kann eine Blume daraus werden, aber auch eine Bombe. So unzuverlässig, unberechenbar und überraschend ist jeder Buchstabe des Alphabets. [...]

 

Es wäre aber eine Täuschung zu glauben, ich hätte die Ideogramme im Griff. Der Ursprungsmythos über die chinesische Schrift erzählt von Ungewissheit – ja, sogar von Unlesbarkeit. Dort heißt es, dass der Erfinder der ersten Ideogramme von den Fußspuren der Vögel inspiriert wurde. Die ältesten chinesischen Ideogramme, die man gefunden hat, waren in Schildkrötenpanzer oder in Tierknochen eingeritzt.

 

Einerseits erweckt diese alte Schrift – „kookotsumoji“ (Panzer-Knochen-Schrift) genannt – bei mir Vertrauen. Denn einige ihrer Zeichen ähneln den Zeichen, die heute verwendet werden. Die Zeichen für „Beine“, „Muschel“ oder „Schiff“ kann ich sogar erkennen. Andererseits muss ich immer wieder an die Fußspuren der Vögel denken. Sie entstammen nicht dem menschlichen Denken und bleiben für immer unzugänglich.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke