Yoko Tawada: Opium für Ovid

Leseprobe


Eine Mücke fliegt quer durch Coronis Blickfeld. Als sie den winzigen Flieger fangen will, ist er schon mit der Luft verschmolzen. Coronis sitzt im Abendlicht auf dem Balkon und liest. Schon wieder springt eine freche Mücke in ihr Blickfeld. Coronis hält den Atem an und horcht, die Abendstille fällt auf den Balkon. Die Mücke ist weg. Einige Sekunden später huscht wieder ein winziger Schatten vorbei. Es ist vielleicht gar keine Mücke. Ein zerbrochener Teil eines Buchstabens? Staub im Auge?

 

Coronis hält inne, kehrt vorsichtig zu der Buchseite zurück, da taucht die Scheinmücke wieder auf. Der fliegende Scheinschatten befindet sich nicht in der Luft sondern in Coronis’ Augäpfeln, es ist ein Riss in ihrer Sehkraft.

„Das kommt vom Alter“, sagt der Augenarzt.

„Die Scheinmücke kommt vom Alter? Und wo liegt die Stadt die ‚Alter’ heißt?“

„Das sind keine Tiere, das ist ein körperlicher Mangel.“

„Es ist schön, jedes Jahr ein Insekt mehr im Körper zu haben: eine Grille im Herzen, eine Heuschrecke in den Nerven und einen Nachtfalter im Hals.“

 

Coronis stellt sich selbst wie ein Wohnhaus für unsichtbare Insekten vor. Der Arzt setzt eine Probebrille auf Coronis’ Nase und zeigt auf ein Plakat, auf dem Reihen von Buchstaben zu sehen sind. Sie sehen aus wie konkrete Poesie.

 

„Was für einen Buchstaben sehen Sie dort?“

Coronis sieht ein O, aber mit einer anderen Brille sieht sie ein Q, mit einer dritten ein G.

„Was sehen Sie nun?“, fragt der Arzt.   

Coronis antwortet: „Ich sehe jedes Mal was anderes. Durch häufigen Brillenwechsel Mehrdeutigkeit erleben, soll das der Sinn einer Brille sein?“

„Frauen, die als Mädchen gute Augen hatten, haben Probleme mit Brillen, weil sie sie nur als Symbol für das Altern wahrnehmen. Aber denken Sie doch daran, dass es auch viele kleine Kinder gibt, die Brillen tragen müssen.“, sagt der Arzt.

„Ein Leben ohne Brille ist langweilig“, antwortet Coronis fröhlich.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke