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Scheibe ist ein schönes Wort, als wäre es aus Seide genäht. Eine Scheibe Brot. Es klingt wie ein warmer weiblicher Leib, der in einem Seidentuch eingewickelt ist. Nicht die ganze Frau, sondern eine dünne Scheibe von ihr. Selbst wenn die Milch angebrannt schmeckt, gibt es eine Scheibe Hoffnung im Brot. Der Patient glaubt, er würde nur Wörter essen. In Wirklichkeit verdaut er alles, was zu den Wörtern gehört. Er muss das Brot zusammen mit dem Wort Brot gegessen haben, weil er wie immer appetitlos hungrig war.
Er beobachtet die schöne Sängerin jeden Tag um dieselbe Uhrzeit. Er amüsiert sich, weil sie nicht zu wissen scheint, dass er weiß, wer sie ist. Sie denkt, niemand könne sie erkennen, weil sie einen klassischen Damenhut, eine große Sonnenbrille und ein breites Halstuch trägt, das ihren Mund bedeckt. Sie weiß nicht, dass der Patient die Menschen an ihren Fingern erkennt und nicht am Gesicht. Früher stand er in der letzten Reihe auf dem höchsten Rang, und die Sängerin auf der Bühne war so klein wie ein Fingerhut. Ihre einzelnen Finger konnte er nicht erkennen. Seitdem die Konzerthäuser geschlossen sind, sitzt der Patient stets in der ersten Reihe zu Hause. Noch nie war die Bühne so nah wie jetzt. Wenn er nach dem Besuch eines digitalen Musikraums allein ins Bett geht und die Nacht mit offenen Augen durchgeschlafen hat, wartet auf ihn ein heller Tag. Früher gab es viele Grau-in-Grau-Tage. Jetzt bestrahlt und bestraft die Sonne einheitlich alle Tage und die Stadt sieht zweidimensional aus. Die Schattierungen muss der Patient selbst hinzufügen, um weiter plastisch zu denken.
Inzwischen sind alle Bühnen wieder geöffnet. Zumindest sagt man so. Aber der Patient hat verlernt, ein Verkehrsmittel zu benutzen. Er kann sich auf dem Bahnsteig nicht so platzieren, dass kein Verrückter ihn auf Gleise schubsen kann. Schon die Treppen zum Bahnsteig sind ein Problem. Beim Hinabsteigen denkt er an die Hölle, beim Hinaufsteigen an die Guillotine.
Aus dem Haus gehen. Das wäre der erste Schritt. Als Bürger hat er das Recht, zu jeder Zeit die Realität zu verlassen. Steht er auf dem Bürgersteig, kann er sich sicher sein, dass die Sängerin von rechts kommt. Würde er nach rechts gehen, wäre die Begegnung in einer Sekunde beendet. Er geht nach links, und die Berühmtheit folgt ihm. Er hat Angst, dass sie, weil sie keine Angst hat, ihren Weg immer geradeaus weitergeht, während er die nächste Straße nicht überqueren kann und nach links abbiegen muss. Zu seinem Erstaunen biegt sie nach links ab und geht ins Innere des Cafés. Es muss drinnen kühl, dunkel und angenehm sein. Niemand traut sich aber, hineinzugehen. Niemand will so viel Sonne abkriegen. Diejenigen, die ihre Häuser verloren haben, sind dem Sonnenlicht den ganzen Tag ausgeliefert. Für diejenigen, die sich erholsamen Schatten leisten können, ist das Sitzen in einem Café draußen eher ein Alibi. Der Winter wird nicht kommen, in dem der Mensch den verkorksten Sommer in Ruhe verarbeiten und abschließen kann. Der Frühling wird nicht kommen, weil der Winter nicht kommt.
Ausschnitt S. 15 bis 16 aus Kapitel 1 ©
Konkursbuch Verlag
Der Mann, der vor Patrik steht, sieht sehr transtibetanisch aus. Zum ersten Mal im Leben benutzt Patrik dieses Celan-Wort, das er schon lange unter seinen Federn gewärmt hat, ohne zu wissen, welche Menschengruppe oder Sprachgruppe aus dem Ei schlüpft. Der Mann sieht wirklich transtibetanisch aus, es ist ein subjektiver Eindruck und Adjektive sind dafür da, die Subjektivität zu unterstützen.
Der Mann fragt, ob er sich zu ihm an den Tisch setzen darf. Seine Sprache ist keine Rarität, für die man eine ausgefallene Bezeichnung wie transtibetanisch verwenden müsste. Sie ist ein schlichtes Deutsch mit leichtem Akzent. Andere Tische sind besetzt und es kommt Patrik logisch vor, dass zwei Männer einen Tisch solidarisch miteinander teilen.
»Ich heiße Leo-Eric Fu«,
sagt der Mann, streckt seine Hand elegant aus und zieht sie rasch wieder zurück, bevor Patrik darauf reagiert. Patrik versteht, dass eine Begrüßung nicht körperlich vollzogen werden muss. Eine Frage kreist brummend in seinem Kopf. Sollte man bei einer flüchtigen Bekanntschaft in einem Café schon den kompletten Namen verraten oder sind alle drei Komponenten, Leo, Eric und Fu, seine Vornamen? Patrik ist vorsichtig und sagt nur einen seiner Vornamen.
»Ich heiße Patrik.«
»Das weiß ich«,
antwortet Leo-Eric verständnisvoll nickend. Patrik ist verunsichert, weiß nicht, wie diese Antwort zu deuten ist. Leo-Eric sagt dann, er habe Patrik oft in diesem Café beobachtet, das letzte Mal mit dem Gedichtband Fadensonnen. Patrik kann sich gar nicht daran erinnern, möglich ist es aber, dass er im Café Gedichte las, er hatte zumindest vor, auf einer Paul Celan-Tagung in Paris einen Vortrag zu halten. Er weiß im Moment nicht, ob seine Teilnahme noch genehmigt wird oder ob er schon längst als überempfindlicher Spinner aus der Rednerliste gestrichen worden ist.
»Sie haben vor, über den Gedichtband Fadensonnen einen Vortrag zu halten?«
«Vielleicht wollte ich das vor einigen Wochen. Aber jetzt nicht mehr.«
»Warum nicht?«
Patrik findet keine Antwort auf diese Frage und erfindet schnell eine mit gesenktem Blick.
»Ich mag keine Tagungen.«
»Warum nicht?«
«Mich stresst die Situation, in der ich von allen Seiten betrachtet werde. Alle Menschen setzen sich plötzlich eine Teufelsmaske auf.«
»Wie meinen Sie das? Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Vortragen, fragen, antworten, diskutieren: Mir kommt alles vor wie ein Theaterstück.«
»Ich denke, die Gesellschaft ist ein Theater. Demokratie braucht eine Rahmenhandlung und gelernte Spielarten. Allein aus authentischen Gefühlen kann man keine Demokratie aufbauen.«
Patrik hebt den Blick und denkt, dieser Leo-Eric sei vielleicht ein Freiheitskämpfer aus Hongkong. Gleich danach radiert er diese spontane Vermutung von seinem Hirnblatt aus. Jemand aus Peking kann auch ein Freiheitskämpfer sein. Es ist doch eher Patrik selbst, der demokratie-untauglich ist.
Ausschnitt S. 33 bis 35 aus Kapitel 2 ©
Konkursbuch Verlag