Eines Tages fand ich eine Kassette in der Post.
Enno hatte sie besprochen: „Große rote Sonne, inwändig meiner Haut“.
Als ich später durch die Stadt ging, fühlte ich, wie die Luft um meine Knöchel und Knie strich, wie der Saum meines kurzen Rockes meine Schenkel berührte, während Ennos dunkle Stimme in meinem Kopf summte.
Jeden Abend lauschte ich seinen Worten, jeden Abend wärmten sie mich. Und wenn wir telefonierten, dann kribbelte die Innenfläche meiner linken Hand, als würde meine Verliebtheit dort wohnen.
Von Brief zu Brief zurrten wir den Strang fester, ohne dass wir uns sahen. Ich wollte seine Hände küssen, von denen er sagte, sie wären vom Geigespielen so geschwollen; ich wollte seine Haut kühlen.
In der Kantine grinsten sie mich an -, ich lächelte ununterbrochen, denn schließlich war es das erste Mal, dass ich ernsthaft jemanden liebte, und ich unterteilte die Menschen in zwei Gruppen: die, die liebten und die, die nicht liebten, die, die Sex hatten und die, die keinen hatten. Und alle waren schön. Alle Körper waren schön. Junge Körper, alte Körper, dicke Körper, dünne Körper, alle waren schön. Irgendetwas war schön an ihnen, irgendetwas würde sich zu berühren lohnen.
Ich betrachtete mir die Leiber der Menschen, stellte mir vor, wie es sich anfühlte, sie in der Halsbeuge zu berühren oder meine Hand in die Senke über dem Steiß zu legen. Ich streichelte in Gedanken die Schultern und Nacken, den Haaransatz der Männer, umarmte die Frauen, um ihre Hüften und Taillen auszumessen. Ich sehnte mich danach, meine Hand auf eine weibliche Brust zu legen und fand, dass meine eigenen Brüste zum Streicheln verlockten wie kleine Kätzchen in einem Korb.
*
Im Mai sahen sich Enno und ich wieder.
Unglücklich stand Enno im Bahnhof, denn ich kam zwanzig Minuten zu spät -, damals war ich nie pünktlich und verschätzte mich immer.
Enno trug eine grüne Jacke. Wir gingen hinunter zur U-Bahn. Auf einmal rief ich: „Hattest du nicht zwei Taschen dabei?“
„Doch.“
„Wo ist die andere?“
„Die werd ich irgendwo stehen gelassen haben.“
Ich rannte die Treppe nach oben, und da stand die Tasche im Zwischengeschoss vor den U-Bahn-Plänen.
Enno blieb unten bei den Gleisen. Es verwirrte mich, dass er so ruhig war. Er sagte: „Sie wird mir zu schwer gewesen sein. Ich weiß nicht.“
Wir brachten die Sachen kurz in mein Zimmer und gingen direkt auf die Karlshöhe. Dort, über dem Weinberg, las ich Enno einen meiner Texte vor, während er seine Hand in meine Hose schob. Ich trug eine Hose mit Gummibund, und die Spaziergänger sahen nicht, dass Enno mit fester kundiger Hand meinen Schamhügel streichelte, mit diesen kraftvollen Geigerhänden. Ich genoss und las, blickte ab und zu über die Stadt... Der Anblick weitete sich, wurde eng, weitete sich, und meine Liebe verströmte sich, legte sich über das Meer dieser Häuser.
Wir schlichen durch den Hintereingang ins Mädchenwohnheim, und auf einer grün-schwarz gemusterten Klappmatratze in einem sechs Quadratmeter kleinen Zimmer schliefen wir miteinander.
Ich war nicht überrascht, dass Enno weinte.
Er weinte lange in meinen Armen, weinte hemmungslos, damals fragte ich nicht: „Warum weinst du?“, denn ich glaubte, alles verstehen zu können mit eben diesem Wissen einer Dichterin, halb wissend, halb träumend, visionär - dem inneren Auge, das kein Licht nötig hat, um etwas zu sehen.
Damals hielt ich ihn einfach stumm umarmt, und er weinte. Dann schliefen wir, eines in der Wärme des anderen, und vor Morgengrauen drang er wieder in mich ein.
Weil es in dem Mädchenwohnheim verboten war, jemanden übernachten zu lassen, und es tatsächlich eine Loge neben der Eingangstür gab, in der die „Hausmutter“ tagsüber strickte, trieben wir uns den ganzen Tag in den Parkanlagen herum und schlichen uns erst nachts ins Zimmer, wo ich in Ennos Liebe und seinen Komplimenten badete.
Im Zimmer entstanden Fotos, die einen Mann mit einem offenen glücklichen Lächeln zeigten, die Lippen vom Küssen geschwollen - wie beim Sprechen eines weichen B´s.
Wir gingen zum Bahnhof, nachdem wir uns heftig, verschwitzt, weinend, verzweifelt noch einmal geliebt hatten. Uns schmerzte der Unterleib, Ennos Knie waren aufgeschürft, seine Lippen bluteten, ich hatte blaue Flecken auf Schenkeln und Armen.
Enno stieg in den Zug, ich stand draußen. Die Zugtür schob sich zu, und mir schnitt diese erste einer langen Reihe von Trennungen quer durch den Bauch.
Der Schmerz war schier unerträglich; ein Monat später die Vorfreude überwältigend. Ich reiste zu ihm, und allein meine Vorfreude schleuderte den Zug nach Bremerhaven. Die anderen Reisenden, was wollten sie bloß? Wieso hielt der Zug an jedem einzelnen Bahnhof, wieso stiegen andere Leute ein und aus, wieso musste ich umsteigen? Das hielt doch alles bloß auf!
...
Ich war achtzehn, als ich Enno kennenlernte. Wie alle Welt sah ich ab und zu die grölenden, großspurigen, sich selbst feiernden Männer vor den Supermärkten oder vernahm das Gänsekrächzen der Fußballfans, aber ich kannte nicht einen Alkoholiker persönlich.
Meine Brüder hatten Ennos Hände gesehen und gedacht: „Mit dem Mann stimmt etwas nicht“, doch wussten auch sie nicht, was.
In meiner 25 Köpfe zählenden Großfamilie gibt es keinen einzigen süchtigen Menschen. Es gibt Fälle von Asthma, Schizophrenie (angeheiratet) und Epilepsie (unfallbedingt), es gibt einen Waffensammler, der seinen Hund abgerichtet hat, auf den Befehl: „Wie macht der Führer?“ eine Vorderpfote zu heben. Aber keiner raucht, spritzt oder trinkt, steckt sich den Finger in den Mund oder ritzt sich die Arme. Nicht eine meiner Cousinen ist magersüchtig oder tätowiert.
Enno und ich konnten uns ja nur während des Urlaubs treffen, an Feiertagen und an den Wochenenden - und noch nicht einmal an jedem.
Die Osterwoche, genau ein Jahr, nachdem wir uns kennengelernt hatten, verbrachte ich wieder bei Enno in Bremerhaven. Und in diesem nur siebentägigen Urlaub geriet ich in einen taumeligen Schock. Alles, was mich bezaubert hatte, wurde innerhalb weniger Tage schäbig.
Nach dieser Osterwoche wusste ich, dass Enno alkoholkrank war. Und zwei, drei Wochen nach „Abreisetag Franziska“ notierte Enno in seinen Tagebuch-Kalender: „Mit Franziska spazieren. Erregte lange, schrecklich schwere Auseinandersetzung. Wir weinen beide. Wir wollen zusammenbleiben um fast jeden Preis. Wir verirren uns total im Wald. Nach Stunden erst finden wir raus.“
Um fast jeden Preis. Um jeden Preis.
© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke