Silke Andrea Schuemmer: Nixen fischen

Leseprobe


Ines zuckte zusammen, als die Tür vom Nebenzimmer aufging, sich ein massiger Bauch durch den Spalt schob und ein beißender und säuerlicher Geruch in den Laden strömte. Der mittelgroße Mann, der mit auffälligem Hohlkreuz in der Türfüllung stand und seinen Reißverschluss über den trommelartigen Leib hochzog, trat auf Socken über die Schwelle in den Verkaufsraum und rieb sich dabei den Bauch.

 

»Makrele, pikant«, er schmatzte einige Male, »da kaut man die Angst des geangelten Tierchens mit.«

 

Sein Kopf war fast rechteckig, und um die fleckige Halbglatze führte ein dünner rötlicher Haarkranz. Augenbrauen und Wangenknochen waren wulstig, die Lippen dick und geschwungen.

 

Dann bemerkte er Ines, der er knapp bis zum Kinn reichte, und blieb abrupt stehen. Mit offenem Mund und aufgerissenen, weit auseinanderstehenden Augen besah er sie von oben bis unten.

 

»Eine weiße Riesin«, sagte er schließlich. »Hinabgestiegen aus Hemplers feuchten Träumen. Dich kann man ja exponieren. Wie groß bist du, Mädchen?«

 

Seine Stimme klang überraschend hoch.

 

»Ich wollte fragen wegen ...«, setzte Ines an, aber der Mann brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er kratzte mit dem Nagel seines kleinen Fingers zwischen den Schneidezähnen, die groß und gelblich waren, während er sie nicht aus den Augen ließ und auf seinen dünnen Beinen um sie herumging, seinen massigen Bauch vor sich herschiebend.

 

»Geduttet wie des Fischers Fru. Die Haare gehen wohl bis zum Arsch, wenn sie offen sind?«

 

Er pfiff leise und nickte. Ines presste ihre Tasche an sich.

 

»Egal, was du willst, hier bist du richtig. Wenn ich dich dem Hempler zeige, der wässert sich direkt den Latz mit seinem Saft, der speichelt sich eine Pfütze, der ...«

 

Er stockte und hielt ihr seine Hand entgegen.

 

Ines reichte ihm ihre zögerlich. »Es geht um das Fotoalbum im Schaufenster.«

 

Der Mann nickte, als wäre es ohnehin völlig klar, wieso sie sein Geschäft betreten hatte. »Ich bin Knut Seckig. Komm rein, heim-heim zum guten Knut, immer hinein.«

 

Unter seinem Pullover zeichnete sich deutlich seine fleischige Brust ab. Er schob einen Finger durch das Zopfmuster und befühlte seine Brustwarze, während er sie weiter musterte.

 

»Studierst du hier?«

 

Ines räusperte sich. »Erstes Semester.«

 

Er nickte. »Zu alt für mich. Der gute Knut liebt die frischesten Fischlein – aber der Hempler, der wird seine Schatzkiste öffnen.«

 

Er wies Ines mit einer leichten Verbeugung in den hinteren Teil des Ladens.

 

»Hempler ist ein Kollege. Macht in antike Stoffe. Ehrbarer Mann.«

 

Er schob Ines einen Stuhl hin. Noch bevor sie sich setzen konnte, schubste das kahlrasierte Mädchen das andere, die schlug zurück, sie knurrten und begannen miteinander zu ringen. Unter Fauchen und Jaulen fiel ein Stuhl um, und das Gerangel ging auf dem Boden weiter, so dass Ines ein Stück abrückte.

 

Seckig verschränkte die Arme vor der Brust und sah zu. Schließlich wies er sie zischend zurecht.

 

»Pütti! Mümmerle! Au pied! Sofort!«

 

Ines duckte sich unter seinem schneidenden Tonfall. Seine Hand zeigte neben sich auf den Boden, er blieb in dieser Pose stehen, bis die Mädchen aufstanden und zu ihm trotteten.

 

Beide waren so blass, dass die Adern an den Schläfen bläulich leuchteten. Die Haut auf den Wangen war trocken und schuppig. Ihre Augen waren dick mit zerlaufenem Kajal geschminkt, die Kahlrasierte hatte eine Sicherheitsnadel im Ohr mit einem Kettchen bis zum Nasenflügel. Sie schmiegten sich an Seckig, dem sie gerade bis zur Brust gingen, und rieben seinen Bauch und seine stockartigen Oberschenkel. Er lachte glucksend, drückte ihnen je einen Schein in die Hand und küsste sie auf den Mund, wobei seine dicke, noppige Zunge zuckte und kreiselte, und scheuchte sie schließlich mit Klapsen auf die mageren Hüften zurück auf ihre Stühle. Da saßen sie wieder unbewegt und schweigend. Er seufzte und rollte mit den Augen.

 

»Die beiden reizenden Kindchen sorgen für Momente glückseliger Kontemplation. Aber man muss wohl auch ein Auge haben.«

 

Er streckte Ines erneut die Hand hin.

 

»Also nochmals und offiziell: Ich bin der Inhaber dieses Etablissements.«

 

»Ines. Ich komme wegen des Polaroids.«

 

Sie ließ ihre Hand ganz schlaff werden in seiner, eine feuchte Flosse, damit er sie nicht länger als notwendig hielt, aber es schien ihm nichts auszumachen. Schließlich zog sie ihre Hand zurück und setzte sich.

 

Nachdem er ein paar Plastiktassen vom Boden und den Regalen eingesammelt und sie zwischen zwei ledergebundenen Atlanten gestapelt hatte, pustete er kurz in eine davon und füllte den Rest aus einer Weinflasche hinein.

 

»Seit einigen Jahren brauen Chinesen Wein aus Fischen. Dies fabrizieren sie in der ›Dalian Fisherman’s Song Maritime Biological Brewery‹, wusstest du das?«

 

Ächzend ließ er sich auf einen Stuhl sinken, fächelte sich Luft mit einem Quittungsblock zu, trank einen Schluck und zeigte mit dem Finger auf sie. »Warum bist du so blass? Wie ausgewaschen. Gibt es überhaupt passables Mannsvolk für dich?«

 

Ines hielt sich sehr gerade und nahm die Schultern weiter zurück.

 

»Sie haben da ein Polaroid im Schaufenster, in dem Fotoalbum.«

 

Sie ließ den Satz in der Luft hängen.

 

Während Seckig den Wein austrank, nickte er und hob den Zeigefinger. »Da hätt ich wohl so manches.«

 

Sie wartete. Er sagte nichts. Sie sagte nichts. Sie bewegte die Zehen in den Schuhen. Ihre Hände waren kalt und schwitzig.

 

»Ich möchte es kaufen.«

 

Seckig erhob sich unter Ächzen und Stöhnen. Er holte das Album mit umständlichen Verrenkungen an der Stellwand vorbei aus dem Schaufenster und legte es vor sie auf den Tisch. Als würde er ihr das Foto erklären, ließ er seinen Finger darüber kreisen: »Ein singuläres Bildnis«, er sah sie scharf an, »das wissen wir ja beide.« Sie fühlte eine Gänsehaut den Rücken hinaufkriechen.

 

»Das wertvollste Stück im ganzen Album.« Er tippte auf die Monoflosse des Tauchers. »Ich habe es nur wegen dieses Komponentiums erstanden, der Rest ist wertloser Krempel, aber dies hier, das hat mich interessiert.«

 

Er setzte sich neben Ines.

 

»Ich bin nicht nur ein Händler, weißt du, ich bin vor allem ein Sammler. Und für so etwas hat der Knut eine Schwäche. Ich kann dir einiges erzählen, ich weiß viel über das Watt, den Schlick, den Schnodder, das Gemodder, das Stille der Ebbe und das Löwengebrüll der Flut.«

 

Er klopfte mit den Knöcheln vor ihr auf den Tisch.

 

»Du bist auch so eine. Ich erkenne das. Deine feuchten Augen, die schwankenden Schritte, das Schweigen, das Zaudern. Ich wette, wenn dich jemand ins Gesicht schlägt, bleibst du beherrscht und kühl, in deiner Brust der Mahlstrom, doch das Gesicht glatt wie die zugefror’ne See.«

 

Er deutete auf ihr blausamtenes Korsett, das sie über einer weißen Bluse trug. »Alles an dir ist so festgezurrt, als würdest du jeden Moment einen Sturm erwarten, der dich überbords wirft. Keine Sorge, ich werd dir zeigen, wie man sich treiben lässt und schwimmt und taucht. Vielleicht weißt du es noch nicht, aber: Dein Element ist die Tiefe.« Er lächelte in sich hinein.

 

»Können Sie mir sagen, wann und wo das Foto aufgenommen wurde?«

 

Seckig spreizte seine Daumen und Zeigefinger zu einem Rahmen und sah zu ihr, als wollte er sie filmen. Ines rutschte bis auf die Stuhlkante und versuchte, seinem Blick auszuweichen.

 

»Du wirst dich viel besser fühlen, wenn du dich hinabsinken lässt. Dort unten tönt es still.« Er atmete durch die gespitzten Lippen, so dass ein Geräusch wie leiser Wind entstand. »Es ist ganz ruhig. All das Lärmen und Tosen in der Brust hat ein Finale. Man muss es nur akzeptieren, fernab der Welt zu sein. Man muss das Rauschen einlassen und mit der Strömung treiben.«

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke