Acht Jahre, bevor Tina zur Welt gekommen war, hatte ihre Mutter ihn in Pflege genommen. Tina vertraute ihm wie einem Bruder, als Geschwister wuchsen sie auf; den ganzen Sommer über nahm der dreizehnjährige Sebastian eine Fünfjährige mit zum Schwimmen.
Nach dem Einlass strebte Tina gleich weg, zog sich am Beckenrand um; eilig schüttelte sie die Kleider ab. Sie duschte nicht, hüpfte ins Wasser, planschte bis sie zitterte, schmiegte sich an die von der Sonne aufgewärmten Steine eines Weges, schlief, während andere Freibadbesucher über sie wegschritten.
Weil sie sich vor den langen Reihen der Schwimmbadtoiletten fürchtete, pinkelte sie ins Becken. Sebastian durfte sie damit nicht kommen.
Er lagerte bei seinen engsten Freunden in einem Kreis auf der Wiese. Sie sprachen, rauchten Birkenrinde, husteten. Sie klärten die Dinge.
Die Mädchen aus Sebastians Klasse lagen für sich, ein Stück entfernt, aber noch zu sehen und zu hören. Die Jungs, auch wenn sie freundlich waren, schienen für die Mädchen abstoßend zu sein, als bräche Männlichkeit aus ihnen heraus wie Krankheit.
Sebastian und seine engsten Freunde schlugen sich nie herum, jagten kein Mädchen über die Wiese, zerrten keines ins Wasser; beachteten sie nicht, nie.
Tina lief mit ihrem Bikinoberteil in der Hand zu Sebastian, der sagte: »Das brauchst du noch lange nicht!«
Tinas kleines Gesicht war oval, sie hatte kurze schwarze Haare und sehr große dunkle Augen. Den Sommer über ernährte sie sich von Pommes, Schaumwaffeln und Mäusespeck, und doch war sie mager und spillerig. Rippen, Schlüsselbeine, Knie und Ellbogen wie Knöpfe und Stöckchen, die Brustwarzen halb eingesunkene Blütenblätter; und wie sie so dastand, wölbte sich ihr kleiner Bauch heraus. Sie vibrierte, weil sie fror, von Kopf bis Fuß.
Sie sah Sebastian noch kurz erwartungsvoll an, huschte dann weg, stelzte barfuß durch das Gras, über die Wiese und zu den Mädchen. Ohne zu sagen was sie wollte, stellte sie sich vor Gabriela und presste in einer halben Umarmung das geknüllte Bikinioberteil gegen deren Hals. Gabriela lächelte, so hatte Sebastian sie noch nie lächeln gesehen –.
Sie nahm das Oberteil und zog Tina die Träger über Arme und geknautschte Schwimmflügelchen; sie drehte das Kind sanft herum, nestelte an dem winzigen Verschluss. Gabriela hatte lange und schmale Hände, und nun berührten diese Hände, deren Berührung sich Sebastian in der Schule so oft schon gewünscht hatte, die Schultern des Kindes, das sich daraus gar nichts machte; sie hatte nicht einmal »Bitte« gesagt; es war für sie selbstverständlich, dass die Älteren sie bedienten. Nun bliesen sie ihr die Schwimmflügel auf. Frauke kniete lächelnd rechts neben Tina, Rosi links; das zu sehen, versetzte den Jungs einen Schlag, sie rollten sich auf den Bauch, sprachen wie zuvor, lugten durch die Halme, und das zerdrückte Gras färbte ihnen die Gesichter.
Von drei Mädchen gehalten, trat Tina von einem Fuß auf den anderen.
Als die Mädchen sie losließen, rannte sie, ohne »Danke« zu sagen, schnurgerade zum Nichtschwimmerbecken, schlitterte und platschte hinein, achtete dabei nicht auf die anderen Kinder, die schon drinnen waren. Die Mädchen sahen ihr besorgt hinterher, und Sebastian hatte etwas begriffen.
Er stand auf und ging ihr nach. »Nicht!«, rief er.
*
Von nun an kümmerte er sich um Tina, begab sich in die Raubtierwelt der Kinder, schlichtete Streitereien, blieb an der Seite der kleinen Schwester, sogar, wenn sie Unrecht hatte, wenn sie einem noch kleineren Kind auf den Kopf schlug; er pufferte diese Wut ab, diese absolute Wut, all diese mit sich selbst übereinstimmenden, wie nichts entfachten und gelöschten Gefühle.
Abends holte er Tina aus dem Wasser. Sie hatte blaue Lippen und zitterte am ganzen Leib. Sebastian wickelte sie in ein Badelaken und rieb ihr den Kopf trocken. Sie saß als Frotteezwerg neben ihm; was sie plapperte, interessierte keinen, von einem Augenblick auf den anderen, sobald ihr warm wurde, schlief Tina ein.
Vermutlich sank Sebastians Ansehen im Kreis seiner Freunde; so aber sahen ihn die Mädchen, einen Arm wärmend um das schlafende Kind gelegt. So fing er ihr Lächeln ein.
Die meisten waren Einzelkinder oder lebten in Patchworkfamilien, waren schon glücklich, wenn sie ein Tier halten durften.
Gegen Ende des Sommers war Gabriela in Sebastian verliebt. An der Bushaltestelle küsste sie ihn.
*
Inzwischen ist Tina sechzehn, Sebastian vierundzwanzig.
Sie fächert die Sonne durch die Wimpern, blickt auf die staubigen Spitzen ihrer Stoffschuhe, kickt sie nach oben, und es lösen sich flaumige Wolken zusammengeklebter Pappelsamen vom Weg. Der Rocksaum schwingt; die Hüften sind locker. Die Trommel ihres Beckens pendelt nach rechts und links und dreht sich nach vorne und hinten. Locker hängt die Tasche über der Schulter. Der Metallverschluss klappert zum Hin und Her ihrer Hüften, zu jedem Schritt.
Wind in den Bäumen. Ihre Schritte knirschen auf Schotter und Kies, ein Schritt zur Seite, die Füße versinken im Gras, Halme streicheln ihr über die Waden. Der Weg ist grau und weiß und verläuft zwischen hellgrünen Feldern. Flache Gebäude, vielleicht Ställe, begrenzen den Horizont.
Auf einer weit entfernten Hügelkuppe stehen Windräder. Siebzehn hohe, hellweiße Windräder, die von derselben Kraft und in derselben Geschwindigkeit bewegt werden, und doch kommen sie nie zusammen – schüchterne Liebende oder Geschwister. Dies Tanzen der Zweige, grüne Flirren. Der feine Geruch von Blüten, von Sand, der eigenen Haut. Vorhin am Fluss, da hatte sie Lust hineinzugleiten. Das Wasser wirkte so sauber, auch wenn es grau war, felsengrau. Sie sah kleine Fische springen, dieses Sprühen, das Durst macht. An der erhitzten Schulter die Sonnencreme schnuppern. Nun beginnt eine andere Zeit, die Zeit der lockeren Beine, der langen Tage. Sie kann machen, was sie will. Sie kann die Nächte draußen verbringen, sich im Fluss waschen, mit der Hand Wasser schöpfen und daraus trinken.
Aus einer Baumkrone am Waldrand löst sich ein Bussard. Nimm mich mit! Dieser Schwung nach oben, dies Steigen in der Wärme von Luftschicht zu Luftschicht. Wie Atemholen. Atmen. Kreise ziehen. Große Vögel, Greifvögel, sind ihre Freunde. Die geben Zeichen für sie, bedeuten Glück, verheißen ihr etwas, ihr ganz speziell.
Als Kind hatte sie immer genau gewusst, was sie machen sollte, war in einem träumerischen Sinne sicher gewesen, nicht im Sinne der Erwachsenen. Nie brauchte sie jemanden fragen: Was soll ich jetzt tun?
Bis sie in einem Schub wuchs, die Brüste spannten und schmerzten. In ihrem Inneren rutschten alle Knochen auseinander; alle Sehnen, alle Stränge lösten sich, bildeten nur noch eine lockere, schlenkernde Verbindung. Und auf einmal wusste sie nicht mehr, was sie tun sollte. Sie stand morgens auf und erledigte die Sachen vom Vortag, ging zur Schule und so weiter, aber warum eigentlich? Sie tat es wie eine Puppe, Olimpia, ein Konstrukt, eine Marionette, kein Mensch. Überall suchte sie nach Zeichen, wie das zu machen wäre, sich neu zusammenzusetzen. Über diese Zeichen durfte sie nicht sprechen, die Puppe war so zerbrechlich, die hingeworfene Bemerkung von Mutter oder Freundin konnte die Bedeutung zerschneiden. Zeichen konnte alles Mögliche sein, nicht nur die Vögel am Himmel, auch, was jemand zu ihr sagte, oder ein Satz, den sie las, der Blick eines Mannes, die geheime Bedeutung einer Straßenmusik. Es musste nur so auf sie zukommen, als wäre niemand anders als sie gemeint, und niemand anders durfte es bemerken, dann war es richtig, dann verschmolzen die Enden der zerschnittenen Bänder miteinander. Und hatte ein mächtiges Zeichen sie zusammengesetzt, fühlte sie ein Ziehen in ihren Schenkeln, in ihrer Brust, Vorfreude, dann hatte das Schlenkern ein Ende, war sie sehr stark, stärker als alle, dann machte sie ihre Schenkel zur Schraubzwinge, fuhr mit dem Rad, ohne abzusteigen den Berg hinauf bis zum Sendemast. Sie schwamm, sie tanzte, sie streifte durch die Stadt. Ihre Kraft erneuerte sich in der Bewegung, die Bewegung konnte unendlich andauern, ihre Kraft schwoll, ihre Zukunft, ihr Leib dehnte sich aus.
Sebastian war ausgezogen, als sie zehn war, und sie hatte ihn bald nicht mehr vermisst. Er machte eine Ausbildung in der Schweiz und blieb dort, arbeitete als Zimmermann und Schreiner. Nur ein einziges Mal spielte er in der Goeschenen-Lotterie und gewann. Zurückgekehrt kaufte er den lange leerstehenden Vierseithof zum symbolischen Preis von einem Euro und baute ihn nach und nach eigenhändig und mit Hilfe seiner Freunde aus. Das Material, die Geräte, das Werkzeug bezahlte er von dem Geld aus der Lotterie; auch begann er, Design zu sammeln und zu tauschen.
Bis der erste Raum bewohnbar war, zog er noch einmal zu seiner Pflegemutter; im hellen Mittag kam er an.
Wie Tina ihn wiedersah, doch nicht gleich erkannte. Er in den Flur trat, die Tasche abstellte, sich wieder aufrichtete. Das Licht von außen. Der Scherenschnitt seiner Schultern und Hüften.
Das stärkste aller Zeichen wurde Sebastians Körper.
Wo war er, wo sah sie ihn am Morgen zuerst? In der Küche, im Bad, am Busbahnhof, auf dem Fußweg, beobachtete er sie einmal, ohne dass sie es bemerkte? Nein, das konnte nicht sein; sie hatte ja überall in sich diese Eisenspäne, die sich nach dem Magneten seiner Schultern und Hüften ausrichteten, bemerkte jeden Blick, immer. Es war ein Zeichen für sie, was er anzog, wie er nach ihr suchte, sie berührte. Wenn sie auf dem Balkon in Sebastians Nähe stand, und sie den Geruch seiner Zigarette wahrnahm, so rauchte er, um mit ihr seinen Atem zu teilen, dann verband dieses kleine Feuer seiner Zigarette sie mit ihm. Die Flamme seines Streichholzes, über die er sich gebeugt, die er behütet, in der seine Augen aufgeglüht waren, die er ihr hingereicht hatte.
Wenn er sie einmal berühren würde wie er seine Freundinnen berührte, richtig berühren, nicht nur so im Vorüberstreifen –.
Aber bevor das geschah, streifte sie unruhig, mit warmer Haut, mit fiebernden Augen durch die Wohnung, durch die Stadt, über die Hügel. Er musste es doch fühlen, er musste.
Doch sie sagte es niemandem, niemand bemerkte es.
Nicht nur Sebastian und die Mutter, auch Tinas Freundinnen, niemand sprach sie je darauf an. Sie liebte wie Feuer und niemand bemerkte es...
© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke