Ina Paul: Damals in Hanoi im Jahre des Tigers

Leseprobe


Übergangslos fällt der Traum auch während der zweiten Nacht in der neuen Wohnung über Maria Martin her: Die Landzunge der Bucht von Do Son. Sie selbst, wie erschlagen von der Hitze, nass vom Schwimmen im Meer, wie immer bäuchlings auf dem rot-gelben Sand liegend, dicht neben dem Saum des schwarzen Wassers. Das nasse Haar, braun, ganz langsam heller werdend. Die Berührung des Mannes, eine leichte, kaum wahrnehmbare Berührung mit langen schmalen Händen. Der Versuch, seinen Namen auszusprechen. Die Unfähigkeit, seinen Namen auszusprechen.

 

In den Traum hinein schrillt die Wohnungsklingel, überlaut in dem leeren Wohnungsflur. Maria wird wach, sieht auf die Uhr: Zwölf, schon Mittag, vielleicht hat sie am Abend etwas zu lange ins Schneegestöber gestarrt!

 

Sie zieht sich den Morgenmantel über, ohne Eile, wer etwas von ihr will, kann warten. Fragt an der Wohnungstür: „Ja, bitte?“ Hört: „Ich bin’s, Josef, Josef Bickenbach.“ Sagt: „Warte, ich bin nicht angezogen.“ Denkt: „Soll er warten! Oder wieder gehen!“ Kämmt sich. Wäscht sich das Gesicht. Putzt sich die Zähne. Nun wird er gegangen sein. Schminkt sich die Lippen. Geht zur Tür, fragt: „Bist du noch da?“

 

Er ist noch da. Sie lässt ihn herein. Er fragt, ob er wieder gehen soll. Sie sagt: „Bleib schon, wenn du schon mal hier bist, du wirst ja nicht ohne Grund gekommen sein.“ Er geht auf sie zu, um sie zu küssen, aber sie sieht ihn so an, wie man Männer ansieht, von denen man nicht geküsst werden will.

 

Im Sessel, den sie ihm zugewiesen hatte, fing er an, in seiner Aktentasche herumzuwühlen, zog schließlich einen Aktenordner heraus und hielt ihn ihr hin.

 

„Worum handelt es sich?“, fragte sie, er sah sie an, irritiert, und dann sagte er: „Du hast dir die Haare abgeschnitten“, als wäre das die Antwort.

Sie half ihm nicht weiter, er stöhnte und dann sagte er: „Es ist so, dass wir nun endgültig alle Mitarbeiter entlassen, das heißt, dass auch die Kurzarbeit ausläuft, und ich fand, dass ich dir das persönlich mitteilen sollte.“

„Und die Herren Geschäftsführer bleiben auf ihrem Posten, versuchen den Verlag zu retten und retten zuerst mal sich selbst, oder nicht?“

„Ja, Maria“, sagte er, „die Geschäftsführer bleiben auf ihrem Posten, das heißt ich bleibe auf meinem Posten, denn nach den beiden anderen Herren hast du ja sicher nicht gefragt.“

„Nein, Josef, da irrst du, ich habe auch nach den anderen Herren gefragt, denn auch die sind ja schließlich meine ehemaligen Kollegen.“

„Mit dem Unterschied, dass ich außerdem noch dein ehemaliger Liebhaber bin, abgesehen davon, dass ich auch jetzt noch dein Liebhaber wäre, wenn du mir nicht den Laufpass gegeben hättest.“

 

„Weißt du was“, sagte sie, „weißt du, dass auf einmal alles von mir abgefallen ist, in dem Moment, als ich die Tür dieser Wohnung zum ersten Mal hinter mir zugemacht habe?“

„Wenn ich wüsste, was ich falsch gemacht habe, könnten wir vielleicht noch einmal von vorn beginnen.“

„Ich glaube, dass von Anfang an alles falsch war. Es war falsch, dass ich mich mit einem verheirateten Mann eingelassen habe, aber außerdem und vor allem war es falsch, dass ich mich mit einem Kollegen eingelassen habe, der zudem noch mein Chef war. Und dabei könnte ich nicht einmal sagen, was falscher war.“

„Es war nicht falsch, Maria“, sagte er, „denn ich habe dich geliebt und ich liebe dich auch jetzt noch, vielleicht sogar noch mehr als vorher.“

„Es zählt nicht mehr“, sagte sie, „es zählt nicht mehr, wenn es auch nicht egal ist. Es ist mir nämlich nicht egal, aber trotzdem ist es zu Ende, es ist zu Ende gegangen.“

„Bring die Dinge nicht durcheinander, Maria“, sagte er, „du hast es beendet und ich weiß nicht mal, warum.“

„Siehst du, Josef“, sagte sie, „du weißt nicht mal, warum. Genau das ist es. Und jetzt gib mir schon meine Kündigung und meine Akte.“

 

Sie las die Kündigung, in der die Herren ihr mitteilten, dass der Verlag sie aus Kostengründen nun nicht mehr halten könne, so wie er auch die anderen Lektoren nicht mehr halten könne, „in Ermangelung von Aufträgen und in Anbetracht der Veränderungen, in denen sich das Land, die Literaturszene und somit der Verlag befinden, der sich nun, wie die Mitarbeiter unschwer verstehen werden, neu profilieren muss, um zu überleben“, und deshalb wünschten die Herren ihr, wie auch den anderen scheidenden Mitarbeitern, für ihr zukünftiges Leben das Allerbeste!

 

„Scheidende, finde ich gut“, sagte sie und weil der Mann nicht zu verstehen schien, ergänzte sie: „Scheidende Mitarbeiter, finde ich gut, eine Formulierung, die eines ehemaligen Cheflektors und jetzigen Geschäftsführers wahrhaft würdig ist.“

„Ach, Maria“, sagte er, „als ob du nicht wüsstest, wie solche Schreiben zustande kommen“, und „du müsstest mir den Erhalt der Kündigung und auch den Erhalt der Akte quittieren.“ Nachdem er ihr die Quittungen hingelegt hatte, stand er plötzlich auf, zog seinen Mantel aus, und weil er nicht wusste, was er damit machen sollte, da die Frau ihm nicht entgegenkam, legte er ihn über den zweiten Sessel.

 

„Vielleicht solltest du mir einen Stift geben, damit ich unterschreiben kann“, sagte sie, aber nachdem er endlich einen hervorgekramt hatte, beachtete sie ihn nicht, denn inzwischen hatte sie angefangen, in der Akte zu blättern. „Was soll ich bestätigen, die Vollständigkeit der Unterlagen, und geht das überhaupt, ich meine, wie kann ich wissen, ob sie vollständig sind.“

Er gab keine Antwort, aber sie hatte wohl auch keine erwartet.

 

„Habt ihr eigentlich keinen Personalchef, dem ihr diese miese Aufgabe hättet übertragen können“, fragte sie, aber sie erwartete auch diesmal keine Antwort, denn inzwischen hatte sie weitergeblättert, immer weiter nach hinten, bis zur letzten Seite, dem ersten abgehefteten Blatt. „Hast du gewusst, dass diese Beurteilung noch existiert?“, fragte sie, aber er, anstatt zu antworten, fragte: „Von welcher Beurteilung sprichst du?“, und seine Stimme klang auf einmal vollkommen fremd.

„Ich spreche von der Beurteilung der Botschaft in Hanoi, in der man mir vor dreißig Jahren bescheinigt hat, was für ein mieses Stück ich bin.“

 

Er senkte die Stimme und jetzt war sie wieder genauso tief und wohlklingend, wie Maria sie geliebt hatte: „Du weißt sehr gut, dass ich erst fünf Jahre vor der Wende in den Verlag gekommen bin, und dass ich sie gar nicht kennen kann.“

„Oh, natürlich weiß ich, dass du erst fünf Jahre vor der Wende in den Verlag gekommen bist, aber erzähl mir nicht, dass du diese Beurteilung deswegen nicht kennen kannst, und erzähl mir vor allem nicht, dass du sie nicht kennst!“

„Aber, Maria, es ist doch vorbei, es ist doch seit dreißig Jahren vorbei, und du warst doch schon lange eine gestandene Lektorin, als ich bei euch anfing, eine gestandene Lektorin, eine erstklassige Kraft und schließlich auch meine Lieblingslektorin, und das bis heute.“

„Aber du warst auch mein Chef und du hättest mich fragen können, was damals gewesen ist, mindestens nachdem du mein Geliebter geworden warst. Und eigentlich denke ich, du hättest mich fragen müssen, aber das hast du nicht getan, Josef, bis heute nicht, und jetzt ist es auch dafür zu spät.“

„Du hattest schon immer eine theatralische Ader“, sagte er, „das war manchmal sehr schön, ich meine, für die Arbeit, aber manchmal war es auch schauderhaft, es war manches Mal wirklich schauderhaft, Maria.“

 

Ihre Blicke prallten zusammen, in der Mitte über dem Clubtisch, und Maria hatte einen Moment lang das Gefühl, dass genau am Schnittpunkt der beiden Linien von irgendwoher irgendetwas herunterfallen müsste, um auf der Glasplatte zu zersplittern, oder sogar noch die Platte zu durchschlagen und die Scherben mit sich zu reißen. „Gib mir den Stift“, sagte sie, „ich werde quittieren und dann kannst du gehen.“

 

Sie unterschrieb die Quittungen, aber der Mann blieb sitzen, kramte aus der Aktentasche eine Flasche Portwein hervor, stellte sie auf den Tisch und sagte: „Ich dachte, wir sollten wenigstens noch einmal zusammen eine Flasche Wein trinken.“

„Eine Flasche Portwein zu Weihnachten, am Heiligabend, gegen Mittag, wenn unsere Bürostunden zu Ende waren und deine Familienstunden noch nicht angefangen hatten. High Noon zwischen Pflicht und Neigung hast du es genannt, und ich habe dich nicht gefragt, warum du nicht fähig warst, deiner Neigung zu folgen. Vielleicht, weil ich mir niemals sicher war, worin du deine Pflicht und worin du deine Neigung gesehen hast.“

„Sei nicht albern, Maria“, sagte er, „hol die Gläser raus und trink einen Schluck mit mir, meinetwegen auf dein neues Leben ohne mich.“

„Es ist erst der Dreiundzwanzigste“, sagte sie, „ich habe gesagt, du sollst gehen, und ich habe es auch so gemeint.“

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke