Patricia Kay Parker: In der Stille des Nordlichts

Leseprobe


 

 

 

Kapitel 10

 

 

 

Im letzten Licht des Wintertages, später, als ich erwartet hatte, bog ich von der Hauptstraße in einen schmalen gewundenen Weg ab und stellte fest, dass sich meine Befürchtungen bewahrheitet hatten und mir eine Wand aus Schnee die Weiterfahrt versperrte. Darum würde ich mich die nächsten Tage kümmern müssen. Nun lag erst einmal ein sechs Kilometer langer Fußmarsch vor mir.

 

Ich stellte den Pick-up ab und stieg aus. Unverzüglich versank ich bis über die Knie im Tiefschnee und musste mich am Fahrzeug festhalten.

 

Ich war froh, dass ich so umsichtig gewesen war, die Schneeschuhe greifbar im Fahrzeug zu verstauen.

 

Nachdem ich sie an meine Stiefel geschnallt hatte, fand ich genügend Halt. Ich verschloss das Auto und machte mich mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken auf den Weg.

 

Die Stirnlampe beleuchtete den Weg, während ich mich Schritt für Schritt von der Straße entfernte. Gespenstisch wirkten die schneebedeckten Bäume um mich herum, wenn die Lampe ihr glitzerndes Kleid streifte. Immer wieder kontrollierte ich über GPS meinen Standort, um mich nicht zu verirren.

 

Lange war es her, seit ich hier zuletzt mit Schneeschuhen gewandert war. Das gleichmäßige Knirschen der Schneedecke unter meinen Füßen wirkte meditativ und ließ mich in einen gleichbleibenden Rhythmus fallen. Dennoch fielen mir die Schritte mit dem vollbepackten Rucksack immer schwerer, während ich mich durch die unberührte Winterlandschaft weiterkämpfte.

 

Womit hatte ich gerechnet? Hatte die Aufregung heimzukehren über meine Vernunft gesiegt? Wäre es nicht viel sinnvoller gewesen, sich erst in ein Hotelzimmer einzumieten, so wie Jari es mir vorgeschlagen hatte? Warum musste ich immer mit meinem Dickkopf durch die Wand?

 

Einen Moment war ich versucht umzukehren. Ein Augenblick, der jedoch beim ersten Nordlicht am Himmel über mir verging. Fasziniert beobachtete ich das grüne Licht, das zu einer lautlosen Melodie durch die Nacht tanzte. Ich fühlte, dass mich die Natur willkommen hieß, und ging weiter, während das zauberhafte Leuchten über mir an Intensität zunahm.

 

Ich fühlte mich zurückversetzt in die Sámi-Erzählungen meiner Mutter und konnte beinahe den kleinen Feuerfuchs sehen, der in wildem Spiel mit seiner Rute Schnee und Felsen streifte und Funken in den Nachthimmel aufstieben ließ, der daraufhin in mystischen Farben leuchtete.

 

Natürlich gab es noch andere Geschichten um die Aurora Borealis, die nordische Göttin der Abenddämmerung. Die Legende der Seelen von verstorbenen Jungfrauen oder Kinderseelen, die zu Nordlichtern werden und vom Himmel winken. Andere sahen darin das Reflektieren der Schilde der Walküren, als Zeichen dafür, dass eine Schlacht geschlagen wurde und die gefallenen Helden nun nach Walhalla geführt wurden. Für die einen brachten die Nordlichter Glück, Reichtum und Liebe, für andere Tod und Unglück. Aber am allerliebsten war mir immer die Geschichte mit dem wilden Feuerfuchs gewesen.

 

Noch bevor die Wildnishütte, die mein Großvater vor vielen Jahren als Basisstation für die Arbeit mit den Rentieren gebaut hatte, in Sicht kam, roch ich das Feuer. Brennendes Holz.

 

Mir stockte der Atem, und ich erstarrte in der Bewegung. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper. Augenblicklich war die Schönheit der Polarlichter erloschen. Verdrängt vom Anblick der abgebrannten Trümmer meines Elternhauses.

 

Nicht noch einmal. Das wollte ich nicht erleben.

 

Ich zog den Gesichtsschutz ab und sog die Luft ein, während ich automatisch meine Stirnlampe ausschaltete, um in der Dunkelheit das brennende Haus besser erkennen zu können.

 

Der Geruch von verbranntem Holz stach mir deutlich in die Nase und verursachte einen Würgereiz. Zu stark war die Erinnerung an den Tod meiner Eltern. Ich keuchte. Das Blut rauschte in meinen Ohren.

 

Mein Atem ging nach der Schneeschuhwanderung über den frisch gefallenen Neuschnee schwer. Meine eigene Atemwolke benebelte mir die Sicht, als ich angestrengt in die Dunkelheit starrte. Ich konzentrierte mich darauf, den Atem anzuhalten, um besser sehen zu können, während sich meine Augen langsam an das fehlende Licht gewöhnten, doch ich konnte keine aufsteigenden Flammen und keine dicken Rauchwolken sehen. Von hier aus müsste ich sie wahrnehmen. Die Hütte war nicht mehr weit. War der Brandgeruch nur in meinem eigenen Kopf? War es die Erinnerung an meine Eltern, die mir den Geruch ihres Feuertodes in die Nase wehte? Bildete ich mir das nur ein? Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden.

 

Ich setzte mich wieder in Bewegung. Ich musste näher heran, um erkennen zu können, woher der Brandgeruch kam. Vielleicht hatte es mit der Hütte gar nichts zu tun. Vielleicht hatte ein Wanderer sich verirrt und ein Lagerfeuer entfacht.

 

Ich lief so schnell, wie ich es in der Dunkelheit vermochte. Jaris Warnung ging mir plötzlich durch den Kopf und ließ mich schlagartig vorsichtiger werden. So ließ ich meine grelle Stirnlampe für den Rest der Strecke ausgeschaltet. Die lautlos wabernden Nordlichter erhellten die Landschaft. Schneebedeckte Bäume warfen geisterhafte Schatten vor dem grünlich schimmernden Himmelsdach.

 

Endlich kam unsere Wildnishütte in Sicht. Und obwohl ich fast damit gerechnet hatte, ließ mich das durch die Fenster scheinende flackernde Licht abrupt stehen bleiben. Starker Rauch, als wäre das Feuer erst vor kurzem mit noch kaltem Holz entfacht worden, stieg aus dem Kamin. Der Wind blies ihn in meine Richtung und umhüllte mich mit dem Geruch von brennendem Holz.

 

Wer war in der Hütte? Sie war doch verschlossen gewesen. Ein Wanderer, der Schutz suchte? Wieder fiel mir der Einwand meines Bruders mit dem entflohenen Strafgefangenen ein. War es wirklich so abwegig, dass er sich hierher durchgeschlagen hatte? Wegen welcher Straftat hatte er eigentlich in Haft gesessen? Ich hatte der Geschichte in den Nachrichten keine Beachtung geschenkt. Aber es war auch unwahrscheinlich, dass ich hier draußen ausgerechnet auf diesen Mann stieß. Aber war es nicht ebenso unwahrscheinlich, dass ich die Frau des Mannes mit dem Motorradunfall getroffen hatte und dass ich Lotta begegnet war? Für einen Augenblick kehrte der Stalker in meine Gedanken zurück, die ich jedoch gleich wieder verwarf.

 

Was sollte ich tun? Meine Augen brannten, je länger ich auf die beiden beleuchteten Fenster starrte. Ich konnte keine Bewegung im Haus erkennen. Aber es musste jemand dort drin sein. Oder hatte derjenige meine Ankunft bemerkt und schlich sich gerade an mich heran? Ich fröstelte trotz meiner warmen Winterkleidung. Kalter Schweiß rann mir den Rücken herab. Ich war den letzten halben Kilometer zu schnell gelaufen.

 

Ohne die Fenster aus den Augen zu lassen, zog ich mein Handy aus der Tasche.

 

»Mist!«, fluchte ich leise. Kein Netz.

 

Wer auch immer dort war, war unberechtigt in die Hütte eingedrungen. Aber vielleicht gab es dafür auch einen logischen Grund. Auf der Straße, wo ich das Auto zurückgelassen hatte, hatte mein Handy noch Empfang gehabt. Sollte ich die sechs Kilometer zurücklaufen? Das konnte ich nur entscheiden, wenn ich wusste, was im Inneren der Hütte vor sich ging. Außerdem gab es, wie ich wusste, im offenen Hofbereich vor der Hütte auch Stellen mit Netz. Ich musste versuchen, zum Haus zu gelangen.

 

Ich lehnte meinen Rucksack gegen einen Baum und trat Schritt für Schritt, so leise es meine Schneeschuhe erlaubten, näher an das Gebäude heran. Das Knirschen des Schnees unter meinen Schuhen erschien mir mit einem Mal so laut, als könnte mich im Umkreis von hundert Metern jeder hören.

 

Immer wieder hielt ich inne und lauschte angestrengt. Doch ich vernahm kein Geräusch außer dem Klopfen meines eigenen Herzens, das mir vor Aufregung in der Brust hämmerte.

 

 

 

Je näher ich kam, desto deutlicher erkannte ich, dass der Schnee vor der Hütte und herüber zum Holzschuppen aufgewühlt und platt gestampft war. Jemand musste mehrfach aus dem Schuppen Holz geholt haben. Und dieser Jemand hatte auf den Verandastufen Blut verloren. Viel Blut, wie mir schien. Die Person, die in die Hütte eingebrochen war, musste sich verletzt haben.

 

 

 

Aus: Patricia Kay Parker, Die Stille des Nordlichts. Thriller. Anhang: Kleiner Reiseführer zu den Orten, die im Roman vorkommen, mit farbigen Fotografien, 454 Seiten, 14,90. ISBN 978-3-88769- 597-2. Copyright © Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke