Regina Nössler: Die Kerzenscheinphobie

Leseprobe


Magst du keine Kerzen?

 

Statt zu antworten, stehe ich auf und räume den Esstisch ab.

 

„Ich bin gleich wieder da“, sage ich und trage die Teller in die Küche.

 

In der Küche, unbeobachtet von meinem Besuch, kühlt sich die Hitze der Scham ein wenig ab. Schwer lehne ich mich gegen die Arbeitsplatte; es muss so aussehen, als wäre ich außerordentlich erschöpft. Und so ist es ja auch: Scham und gleichzeitiges Begehren sind anstrengend. Ist es bereits Begehren? Oder erst eine Vorstufe davon?

 

Ich muss zurück in das andere Zimmer, das weiß ich, ich kann hier nicht ewig stehen bleiben, und dann wird Anna die Frage erneut stellen und ich werde immer noch nicht wissen, wie ich sie dazu bringen könnte, mich zu wollen. Die Chancen stehen schlecht, denke ich. Warum sollte ich von etwas anderem ausgehen? Lieber erst gar keine Hoffnung aufkommen lassen, dann wird es mich nicht allzu sehr treffen, wenn sie gleich noch ihr Glas leert, danach aufsteht und sich verabschiedet. Für immer. Mit einem amüsierten Ausdruck im Gesicht.

 

Diesen Gesichtsausdruck glaube ich die ganze Zeit schon an ihr zu bemerken, leichte Belustigung. Wahrscheinlich verbucht sie mich als seltsame Person, die in klösterlicher Kargheit haust und nur elektrisches Licht kennt, ohne jedes Gefühl für romantische Stimmung. Wahrscheinlich genießt sie es, diesem wenig einladenden Ort zu entfliehen und in ihre eigene Wohnung zu kommen, in der sie Schönheit empfängt, all das, was ich nicht habe. Anna muss in einer geschmackvollen Wohnung leben, dessen bin ich mir sicher. Ihre Kleidung verrät es, ihre Art, sich zu geben, ihre ganze Erscheinung.

 

Als ich aus der Küche zurückkehre, ist Anna vom Esstisch zum Sofa gewechselt und sieht mich erwartungsvoll an.

 

Plötzlich verspüre ich das Bedürfnis, mich wie ein Teenager im Jugendzimmer auf den Boden zu setzen, ihr zu Füßen. Von hier unten sieht das Zimmer noch karger aus. Oder täusche ich mich und es wirkt freundlicher? Ich stelle fest, dass Annas Strümpfe perfekt zu der Farbe ihrer Hose passen, aber ich habe auch nichts anderes erwartet. Ich muss lachen. Ich bin Anfang vierzig, habe also durchaus einige Erfahrungen vorzuweisen, aber ich wurde noch nie auf dem Teppich geliebt. Dabei habe ich mir das oft gewünscht, es immer als besonderes Zeichen von Leidenschaft betrachtet. Es geschah auch damals nicht, mit ihr, obwohl wir es an so vielen Orten getan haben. Warum denke ich jetzt daran? Warum denke ich jetzt an sie? Sie wollte nicht oder es kam einfach nie dazu, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. An die kalten Fliesen in ihrer Küche hingegen erinnere ich mich gut. Ich hatte danach blaue Flecken und war erkältet, was ihr nicht passte, da sie diejenige war, die das alleinige Recht auf Krankheit für sich beanspruchte.

 

„Worüber hast du gelacht?“, fragt Anna.

 

„Über nichts Besonderes“, sage ich.

 

„Du hast mir noch nicht geantwortet“, sagt sie. „Magst du Kerzen nicht? Oder warum gibt es in deiner Wohnung keine?“

 

Warum vergisst sie es nicht einfach?

 

Es ist noch viel schlimmer mit mir, aber das sage ich ihr nicht. Nicht nur, dass ich keinen Kerzenschein mag, ich lasse mir auch nicht gerne Blumen schenken, geschweige denn, dass ich mir selbst welche kaufen würde. „Das ist doch nicht normal!“, sagt Sigrid oft, „jede Frau bekommt gerne Blumen.“ Sigrid hat es längst aufgegeben, mir Blumen mitzubringen, und ebenso wenig erwartet sie welche von mir. Sabine, das ist doch nicht normal! Selbst wenn es liebevoll gemeint ist, eine Neckerei unter guten Freundinnen, steckt doch ein unüberhörbarer Ernst darin.

 

Als ich noch Blumen bekam, täuschte ich stets Freude vor, weil es sich so gehört. Ob ich eine gute Schauspielerin bin, weiß ich nicht. In Wirklichkeit war es mir immer lästig: ihre Stiele anzuschneiden, sie kunstvoll in der Vase zu drapieren, für die Vase den richtigen Platz in der Wohnung zu finden, an dem die Blumen zur Geltung kamen – wo sollte es in meiner Wohnung schon einen Platz dafür geben? –,regelmäßig das Wasser auszuwechseln, damit sie einige wenige Tage länger am Scheinleben erhalten wurden. Hätte mir Anna heute einen Blumenstrauß überreicht, wäre sein letztes Zuhause der Putzeimer aus dem Badezimmer geworden.

 

Vor zwei Jahren, nach dem bislang letzten Kuss, habe ich die einzig verbliebene Vase, die sich noch in meiner Wohnung befand – ein Geschenk –, abgeschafft. Bevor ich sie in den Müll beförderte, holte ich den schweren Hammer aus der Werkzeugkiste, legte die Vase auf den Boden, kniete mich vor sie, beinahe andächtig, und wartete einen Moment. Dann versetzte ich ihr einen leichten, aber gut platzierten Schlag. Ich musste die Vase zerstören, sie unbrauchbar machen, weil es mir nicht möglich gewesen wäre, einen völlig intakten Gegenstand wegzuwerfen.

 

Seitdem gibt es in meiner Wohnung keine Blumen mehr.

 

„Und warum magst du nun keine Kerzen?“, fragt Anna.

 

Wie hartnäckig sie ist. Ich drehe mich um, blicke nach oben zu ihrem Gesicht, das die inzwischen vertraute Amüsiertheit widerspiegelt. Immerhin scheint sie nun selbstverständlich davon auszugehen, dass ich keine Kerzen mag, statt sich zu fragen, ob es denn so ist. Annas Hände ruhen auf ihren Oberschenkeln. Große, schöne Hände. Ich stelle mir vor, wie sie mich berühren. Nicht zärtlich, sondern voller Verlangen, beinahe grob.

 

Mein neues Einschlafritual fällt mir ein, während ich vor ihr auf dem Boden sitze und ihre Nähe, zusätzlich zur Scham, Hitze in mir erzeugt, doppelte Hitze; mein ganz persönliches Gute-Nacht-Gebet fällt mir ein, bei dem sie und ihre Haut die Hauptrolle spielen, seit drei Wochen, seit dem Tag, als ich sie zum ersten Mal sah. Es war nicht direkt Liebe auf den ersten Blick, aber die Ahnung, dass mit ihr all das möglich wäre, was mit anderen seit fast zwanzig Jahren ausgeschlossen war. Eine körperliche Sehnsucht, so vereinnahmend, dass sie mich bei der Arbeit Fehler programmieren ließ.

 

Sieht Anna mir an, woran ich seit drei Wochen Abend für Abend denke, obwohl ich jetzt bereits wieder von ihr abgewandt sitze? Sieht sie es meinen Ohren, meinem Nacken, meinem Hinterkopf an? Projizieren sich meine Gedanken in den Raum, gut sichtbar auf die kahlen weißen Wände? Ja, meinen Ohren ist es sicher anzusehen, denn die Hitze pulsiert auch in ihnen.

 

„Es ist ungewöhnlich“, sagt Anna, „ich kenne sonst niemanden, der keine Kerzen mag.“

 

„Ich schon“, erwidere ich, „ich kenne viele“, und es ist eine Lüge. Keinen einzigen Menschen kenne ich, der Kerzenlicht ablehnt. Vermutlich gibt es solch einen Menschen gar nicht.

 

Warum lässt sie nicht locker? Warum vergisst sie es nicht einfach? Was ist so wichtig daran, dass in meiner Wohnung keine Kerzenständer herumstehen? Kein Kuss ohne Kerzen. Ich hätte es wissen müssen. Wie war ich nur auf die Idee gekommen, mich würde heute eine berauschende Liebesnacht erwarten?

 

Und noch während ich mich frage, ob es eigentlich so undenkbar gewesen wäre, über meinen Schatten zu springen, ob der Erwerb von Kerzen und Kerzenständern tatsächlich so unvorstellbar gewesen wäre – zwei hätten ja ausgereicht und anschließend hätte ich sie in den Schrank verbannen können –, wenn er einem guten Zweck gedient hätte, nämlich dem, dass mein Besuch mich küsst, noch während ich denke, hätte ich nur, hätte ich doch nur, o hätte ich doch nur Kerzen gekauft, nur für diesen einen Abend!, nähert sich Annas große, schöne Hand. Ich sehe sie aus dem Augenwinkel, erschrecke, denke, sie will nach etwas neben mir greifen, doch neben mir ist nichts.

 

Anna legt ihre Hand auf meine Schulter. Nur einen kurzen Moment. Dann rutscht sie vom Sofa und setzt sich zu mir auf den Teppich.

 

„Ich habe schon lange nicht mehr auf dem Fußboden gesessen“, sagt sie staunend, als böte ich ihr damit etwas ganz und gar Außergewöhnliches. Ihr Geruch ist jetzt ganz nah, auch der, der unter ihrem Parfüm liegt. Mir ist heiß.

 

 

„Ich werde dir erzählen, warum ich keine Kerzen mag“, sage ich.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke