Leseprobe

aus poetica 7


 

DON MEE CHOI

 

 

 

Ich bin in Südkorea aufgewachsen, während der von den USA protegierten Militärdiktatur. Ich kam auf die Welt ein Jahr, nachdem General Park Chung-hee sich an die Macht geputscht hatte. Mein Vater filmte den Tag, als das Kriegsrecht vor dem Rathaus von Seoul ausgerufen wurde. Damals arbeitete er als freier Fotojournalist für United Press International. Nach der Parade wurde er kurz in das Gebäude geführt, wo er Park von Angesicht zu Angesicht begegnete. Mein Vater sagt, er habe keine Angst gehabt. Er sagt, er habe auch vor Rhee Syng-man, dem früheren Diktator, keine Angst gehabt. Er habe damals vor nichts Angst gehabt, sagt er. Stattdessen beklagte er sich bei Park über die Nachrichtenzensur. An diesem Tag gelangte sein Film über den Flughafen Gimpo nach Tokio, seine Aufnahmen verbreiteten sich in der ganzen Welt. Da ich ein Kind war, habe ich keine Erinnerung an diesen ruchlosen Tag, nur durch die Erinnerung meines Vaters. Erinnerung der Erinnerung. Erinnerungskind. Mein Erinnern haust im Inneren der Kamera meines Vaters, dem Ort, wo es geboren wurde, wo meine Netzhaut sich mit der meines Vaters überlagert. Als ich alt genug war, begleitete ich meine Mutter jedes Mal zum Flughafen, wenn mein Vater alle drei oder vier Monate aus Vietnam nach Hause zurückkehrte. Sich überlagernde Erinnerungen sehnen sich immer nach Rückkehr, der Rückkehr der Erinnerung.

 

 

 

*

 

 

 

Was ich von meiner Kindheit erinnere sind Kinder, nicht viel älter als ich, die am späten Nachmittag kamen und um Essen bettelten, sogar verdorbene Reste. Wegen der Alarmübungen an der Schule, die uns auf Angriffe von Nordkorea vorbereiteten, lag ich nachts ängstlich wach. Ich fürchtete, der ewig drohende Krieg würde mich von meiner Familie trennen. Ich fürchtete, was meine Mutter fürchtete – dass mein Bruder, von den Protesten mitgerissen, inhaftiert und gefoltert werden könnte. Nachts war unser Radio ausgeschaltet, damit man nicht glaubte, wir seien Sympathisanten Nordkoreas. In der Schule hielten ehemalige nordkoreanische Spione Vorträge über den bösen Führer Nordkoreas. Ich stand an Bushaltestellen und versuchte, nordkoreanische Spione zu entdecken, fand aber nur amerikanische GIs. Meine Freunde und ich winkten ihnen zu, riefen Hellos. In unserem kleinen Hof spielte ich mit Springseil, Puppenhaus und meinen Papierpuppen, umgeben von großen, glasierten Fermentiertöpfen voller Gemüse und strengen, scharfen Pasten. Ich fürchtete ihre Schatten auf dem Pfad zum Toilettenhäuschen. Geschichten von ausgesetzen kleinen Mädchen hallten in mir wider, und so stellte ich mir vor, die verlassenen Säuglinge steckten in den Töpfen. Wann immer ich den Schatten gehorchte, erschienen winzige, schwankende Arme, von Schimmel bedeckt. Wenn es schneite, baute ich auf den Deckeln der Töpfe winzige Schneemänner. Kinder können, wie Ratten, auch im Dunkeln froh sein. Die größte Dunkelheit aber war die mitternächtliche Ausgangssperre. Ich wusste nicht, was sie versperrte, bis meine Familie 1972 den Ausgang fand und in Hongkong landete. So groß war die Dunkelheit.

 

 

 

 

 

***

 

 

 

(Don Mee Choi, *1962, koreanische Autorin, erhielt u.a. den National Book Award for Poetry)

 

 

 

 

 

MIHRET KEBEDE

 

 

 

Der Fluss mit altem Namen

 

Wenn du und ich miteinander ringen

 

hier stehen und zetern,

 

während wir die Schwachen ausnehmen, die Armen,

 

sehe ich den Nil dahinfließen wie eine große Karawane,

 

während die Mittellosen sterben und denken,

 

du und ich hätten gewonnen.

 

Wer singt für einen Fluss, wenn nicht die Menschen?

 

Wer gibt ihm einen Namen, wenn nicht wir?

 

Abay*, der niemals ertrinkt.

 

Die gestern gesungenen Lieder

 

sind lang nicht mehr für dieses Wasser,

 

das nach vorn drängt,

 

bedroht durch die Strömung im Rücken —

 

Der Nil ist niemals derselbe!

 

So wie ich?

 

So wie du?

 

 

 

#evolutionsgedichte115

 

 

 

 

* Der hier besungene Fluss heißt »Abay« auf Amharisch und Nil/Nile/نهر النَيل auf Deutsch/Englisch/Arabisch.

 

 

 

(Mihret Kebede ist eine äthiopische Künstlerin und Dichterin.)