Die Schatten umgeben mich, legen sich über das schwache Licht des Nachmittags, und während sie in die Winkel des Schlafzimmers kriechen, wecken sie die anderen Schatten alter Ängste; weitgehend vergessen waren sie, diese Ängste, die jetzt zurückkehren, um auf den Gegenständen zur Ruhe zu kommen, die meine Augen wiedererkennen.
Hier sind sie, ich sehe sie. Vor dem Bett der Teppich mit dem eingewebten Beduinenmuster. Der Teppich vor dem Schrank mit den Beduinen, die im Schutze eines Sonnendachs sitzen. Ein imaginärer Wind zaust an ihren Turbanen. Neben ihnen Dromedare, die mit eingeknickten Beinen und halb geöffnetem Maul vor sich hin dösen und sie mit sanftem Blick zu bewachen scheinen. Und der Schrank. Der Schrank, in dem ich mich eines nachmittags, als sich die Schatten wie jetzt ausbreiteten, mit Candelaria versteckt hatte.
Wir wollten nämlich herausbekommen, woher die erstickten Schreie unserer Mutter kamen, die offensichtlich den Sprungrahmen des Bettes in Bewegung setzten. Bis in unser Zimmer hörten wir durch die angelehnte Tür das Auf und Ab. Ich streiche mit den Fingern über den Türgriff in der Mitte des Schranks und spüre die metallische Kälte an den Fingerkuppen. Irgendetwas hindert mich daran, ihn zu öffnen. Ich traue mich nicht. Ich kann ihn nicht öffnen. Vater wohl: er öffnete ihn voller Wut, den Schrank, Vater öffnete die Schranktür. Vor mir und Candelaria erschien der nackte Körper unseres Vaters und sein vor Wut verzerrtes Gesicht.
Ich war schuld. Ich konnte mich nicht zusammennehmen. Der Husten verriet mich. Ich konnte das Husten nicht unterdrücken, als wir im Schrank versteckt zuhörten. Ich kann mich nicht durchringen, ihn zu öffnen. Wir würden im Hof spielen gehen, hatten wir gesagt, aber wir nutzten die Gelegenheit und versteckten uns, denn wir wussten, dass Vater und Mutter nach dem Mittagessen eine kleine Pause einlegten und hinaufgingen, denn im Bett ließ sich die klebrige Nachmittagshitze besser ertragen. Kurz darauf vernahmen wir das rhythmische Auf und Ab der Sprungfedern, dabei Mutters Stöhnen, das von einem süßen, tiefen Schmerz zu kommen schien.
Wieder höre ich es. Ich höre das stoßweise Keuchen, das immer schneller und heftiger wird, und gleichzeitig eindeutige, kräftige Schreie, nicht mehr das Flüstern, das anfangs in unser Zimmer drang. Ja, da passierte es. Ich erschrak. Ich fühlte, wie ein übermächtiges Gewicht sich auf meine Brust legte und meiner Lunge die Luft nahm. Ich konnte nicht mehr. Sie werden uns entdecken. Ich halte mir die Ohren zu, um nicht die tiefen Seufzer zu hören, unter welchen Mutter ihr Leben auszuhauchen scheint. Ich nehme mich zusammen, will die Angst verscheuchen, die mich beherrscht und sich in meiner Kehle als kribbelndes Kitzeln staut, das überhand nimmt. Alles werde ich verderben.
Candelaria bedeutet mir mit Zeichen, dass ich durchhalte, dass ich bitte still sei, dass sie mich hören und uns entdecken werden. Ihre Augen sind vor Schreck geweitet, und vier Hände halten mir den Mund zu. Aber ich explodiere innerlich. Ich kann es nicht. Ich konnte nicht an mich halten. Es war einfach unmöglich, den Husten zu beruhigen, so sehr ich mich auch bemühte, so sehr ich auch den Atem anhielt, bis ich glaubte, das Trommelfell, die Schläfen, der Brustkorb, alles würde mir platzen.
Und dann stand die Schranktür plötzlich offen, Licht fiel zwischen die dunklen Hohlwände, die Beduinen sahen mich vom Teppich auf dem Boden her an, dann der Zorn in Vaters Gesicht, vor uns der Vater in seiner Blöße; Laken sollten den Überraschungseffekt mildern und Mutter voller Scham im Bett und schließlich der schreckliche Schmerz, der mehrere Tage zu spüren war: die Striemen, die Vaters Schläge auf dem Körper hinterlassen hatten.
© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke