200 Tage begleiten wir Alice Wellenhase durch ihr Leben in Berlin. ... der Tag 1 in Berlin beginnt ... Alltägliche Episoden wechseln sich ab mit grotesken Träumen, Erinnerungen an Usbekistan und Russland und sinnlichen Abenteuern, die Grenzen sind fließend und verschwimmen, wie im Leben jedes Menschen. Wir kommen Alice sehr nah und bewegen uns mit ihr durch Raum und Zeit. Irgendwann kommt auch ihre Mutter nach Berlin. Alice ist ein Soliton, ein Wellenpaket, das beim Zusammenstoß mit anderen solitären Wellen Energie austauscht. Ein Wunderland zwischen Alltag und Traum.
1
[…]
Ich schrecke auf wie ein aufgescheuchter Vogel und starre mit runden Augen an die Stuckdecke. Was man für einen elenden Mist träumen kann, fucking Muiriled, Delirium, rege ich mich auf, und der morgendliche Traum fliegt in diesem Moment aus meinem Kopf. Ein Hochzeitsmarsch hat ihn zum Verstummen gebracht. Wir wohnen neben dem Standesamt. Ich erwache also vom Klang des Hochzeitsmarsches vor der Tür. Wollen Sie meinen Namen wissen? Sie können mich nennen, wie Sie möchten, aber in Wirklichkeit heiße ich Alice. Halb zehn, ich muss aufstehen. Aber ich habe keine Lust.
Ich ziehe mir die Decke über den Kopf und stelle mir Bilder aus meiner Kindheit vor, als ich mich unter Kletten versteckte und das Gras meine beste Freundin war. Ich lebte im Gras. Ich redete mit Käfern und Raupen, aß die Blätter und Blüten, die sie aßen, und leckte den Tau von den Blättern der Pfefferminze. Ich wünschte mir so sehr, mich in einen Marienkäfer zu verwandeln und auf einer blauen (nun ja, blauen) Kornblume oder einer rosa (nun ja, rosa) Feldnelke zu landen und das Süße zu naschen, das sich in den Blüten befand, und Honig zu sammeln, um einen Vorrat für den Winter zu haben als Mittel gegen Erkältungen. Und ich machte mich klein, und mir schien, dass ich immer kleiner wurde und schon deutlich die Worte der Insekten unterscheiden konnte, die Lieder der Libellen und Kartoffelkäfer hörte. Ich kroch vorsichtig durch das Gras und gab mir Mühe, niemanden zu verletzen. Die Sonne brannte, ich legte mich, erschöpft vom Krabbeln, auf den Rücken, Blumen und Ähren nickten mir vom Himmel aus zu, sangen mir ein Schlaflied, ich schliiie… Nicht einschlafen! Ich muss aufstehen! Das Gras habe ich später verraten, ich vergaß es, begeisterte mich für die Beatles, Creedence und die Rolling Stones, für Simon and Garfunkel. Ta-da-ta-taa, Mrs. Robinson. Ich war sehr gewachsen. Und wenn ich nach unten sah, schien mir, der Boden wäre sehr weit entfernt und mein Kopf stieße an die Wolken. Später begeisterte ich mich für Geschlechtsverkehr, doch im reiferen Alter (wann ist das?) kehrte ich zum Gras zurück, doch aus Angst vor Borreliose distanzierte ich mich und liebte das Gras aus der Ferne, dafür aber umso stärker. Und die Blumen. Auf einer Allee im ehemaligen Ostpreußen bewegte sich festlich ein Trauerzug – eine nicht enden wollende Reihe von Lastwagen, die mit so vielen Blumen geschmückt sind, dass es den Anschein hat, als reichten sie hinauf in den Himmel. In dem kleinen deutschen Dorf, das nur aus einer einzigen Straße und Blumenwiesen besteht, sind alle Männer alt geworden und gestorben. Witwenstraße … Ich bin schon wieder eingeschlafen! Genug geträumt und fantasiert! Steh auf! Ich will nicht!
[…]
Duschen, kämmen und KAFFEE! KAFFEE trinken! Sehr langsam, das ist das Wichtigste. Ich trinke Kaffee und sehe aus dem Fenster. Das Eichhörnchen kommt heute nicht. Kein Eichhörnchen springt heute auf dem Baum herum. Wahrscheinlich hat es Angst vor Musik.
Die Sonne scheint direkt in die Augen, das tut weh. Ich müsste die Jalousien herunterlassen. Ich habe keine Lust aufzustehen. Das hieße ja, die Füße vom anderen Stuhl zu nehmen, sich danach zu erheben, zum Fenster zu gehen … Keine Lust. Ich drehe lieber meinen Kopf ein wenig Richtung Schatten. Ich meditiere. Der Kaffee macht meinen Kopf frei, der Verstand wird hell, leicht, einfach durchsichtig und kristallklar. Noch ein Schlückchen Kaffee. Was für ein Glück, dass ich in Berlin lebe … in dieser Wiege … in der Wiege … Wiege wovon? Des Genusses etwa? Hm, hm … Dieser Geruch … Der Müll riecht. Ich müsste ihn rausbringen. Morgen bringe ich ihn raus. Na ja, falls ich morgen irgendwohin gehe. Aber am Mittwoch muss ich ihn wirklich rausbringen, denn Frau Roth kommt, um sich Bilder anzuschauen. Hoffentlich kauft sie etwas. Es reicht, sortier deine Gedanken! Sieh im Kalender nach, welche Pläne du noch für die nächsten Ta… Prpfffffffffffff – der Kaffee spritzt aus dem Mund, das Klingeln des Telefons hat mich erschreckt, ich war zu sehr in Gedanken. Ich komme ja schon!
„Ja, hallo, Wellenhase am Apparat!“
„Hier auch Wellenhase.“ Mein deutscher Ehemann Karl ruft aus Moskau an. Er arbeitet dort. „Habe ich dich geweckt?“
„Nein, wie kommst du darauf? Ich bin gerade reingekommen. Ich war Farben kaufen. Ich male jetzt.“
„Toll!“
Karl glaubt mir.
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Drring!! Ich schaue durch das runde Loch mit dem Glas in der Tür (unser Haus ist alt, und die Türen darin sind auch alt, sie haben sogar einen Briefschlitz, um Briefe in die Wohnung zu werfen, und eine einfache Glasscheibe anstelle eines richtigen Türspions) und schaue in ein anderes Auge.
„Post“, sagt das Auge.
Ich öffne. Es ist wirklich der Postbote. Gut, dass ich es geschafft habe, mich zurechtzumachen. Zumindest äußerlich. Das Herz pocht – das ist ein niemals verschwindendes Überbleibsel aus der vergangenen Zeit der Perestrojka (oder der Zeit nach der Perestrojka?), als in Russland plötzlich alle damit aufhörten, beim Klingeln einfach so die Tür zu öffnen, sondern lange dastanden und ängstlich fragten, wer da sei, und durch den
Türspion (wenn es einen gab) der neuen Metalltüren mit dem Zerber-Schloss äugten. Ich habe mich wundervoll gekleidet: weite gelb-rot-karierte Hosen, ein grün-orange-gestreiftes T-Shirt, Socken (keine Hausschuhe) mit einer Schweineschnauze auf den Zehen und Schmetterlingen darauf. Mir scheint, dass die Farben rot, orange und gelb einander sehr ähnlich sind und zueinander passen. Es sind warme Farben. Manchmal sind sie kalt. Gut, vertiefen wir uns nicht in die Details der Farbenlehre, ich verstehe sowieso nichts davon. Völlig egal. Ich wollte nur festhalten, dass meine morgendliche Toilette mir vollends gelungen war. Die Schmetterlinge auf den Socken passten zum Beispiel sehr gut zum Wetter – ein heißer Tag Ende Mai. Es macht nichts, dass es Wollsocken sind, dafür habe ich warme Füße, ungeachtet dessen, dass das Rosa der Schweineschnauze etwas kühl ist und die Schmetterlinge von einer unfreundlich schwarzen Farbe. Ich habe die Socken in Moskau von einer Babuschka an der Metrostation Akademitscheskaja bei siebenundzwanzig Grad minus gekauft. Nachts sind meine Füße besonders kalt. Vielleicht habe ich in den Füßen keine Blutgefäße? Ich ziehe die linke Socke aus und schaue nach, es sieht so aus, als seien da welche. Na gut.
Mein Päckchen ist da! Nastja aus Petersburg hat es geschickt. Roter Kaviar, schwarzer Kaviar, Auberginenkaviar und Zucchinikaviar, alles, wie es sein soll. Oh, sogar Salzgurken! Ein Glas mit Gürkchen, eingewickelt in sechs Slips mit hübschem Muster – Blumenprint nennt man das heute. Zwei Dosen Sprotten, eine Salami und Pralinen, einzeln eingewickelt in Papier mit russischen Bären und Matrjoschkas darauf. Und was ist in der Schachtel? Oooh! …
2
[…]
Ich fahre mit der U-Bahn von Neukölln nach Hause nach Charlottenburg. Ich schlafe fast ein nach der immerhin doch ziemlich schlaflosen Nacht. Ich hebe die Wimpern, schaue vor mich hin. Der junge Mann mir gegenüber lächelt, öffnet die Augen schnell ganz weit und kneift sie dann ebenso schnell zusammen. Ich verstehe nichts und senke meine Wimpern. In meinem Kopf bewegt sich alles langsam. Ich hebe die Wimpern, und der junge Mann mir gegenüber lächelt, öffnet seine Augen weit und macht genau dassselbe wie vorhin. Vielleicht ist das nicht an mich gerichtet (er ist, vom Aussehen her, höchstens sechsundzwanzig, und ich bin schon … oho!). Ich schaue nach links und rechts, auf der Bank sitze nur ich, und hinter mir bewegt sich mit der Bewegung des Zuges die Architektur der Hauptstadt. Das heißt, er will mir doch irgendeine Message übermitteln, aber ich habe keine Ahnung, welche. Überhaupt ist es in Deutschland nicht üblich, jemandem wie auch immer geartete Zeichen der Aufmerksamkeit zu schenken (mit dem Ziel, jemanden kennenzulernen, oder einfach so), weder im öffentlichen Nahverkehr noch im Café noch im Restaurant noch in der Disko noch im Kino noch im Theater noch in der Arztpraxis noch im Krankenhaus, nirgendwo und niemals und auf keinen Fall! Oho! Er spielt doch offensichtlich mit mir! Das ist angenehm, doch ich bin verwirrt. Ich hebe die Wimpern, der junge Mann spielt noch einmal sein Augenspiel, diesmal schon vom Bahnsteig, und schickt mir einen Luftkuss. Jetzt verstehe ich. Ich verstehe. Er hat meinen Blick in seinen Augen aufgefangen und sie schnell geschlossen, damit mein aufgefangener Blick nicht aus seinen Augen herausfällt. So ist das also! Was für ein sympathischer junger Mann. So süß. Ich bedecke seinen Luftkuss mit meinen Wimpern.
„Richard-Wagner-Platz.“
Ich wache auf und steige aus.
© Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Marina Lioubaskina, Alice-Soliton, Auszüge S. 19 bis 27 und S. 57 bis 59.
In einem Video können Sie mehr hören: Alice erzählt eine Erinnerung an ihre Kindheit und von einem Besuch einer
Hochzeit in Usbekistan ... hier
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