Litt Leweir: Migräne

Leseprobe


Ich weine. Nein, ich trommle mit den Fäusten auf mein Kopfkissen und heule, was das Zeug hält. Nach fünf Minuten geht es mir etwas besser. Dr. Taussig sieht mich noch immer an, dabei hält sie den Kopf etwas schief, für einen Moment kommt es mir so vor, als schüttle sie ihn.

 

„Ja, Dr. Taussig, Sie haben recht, ich bin in der Tat eine komische Katze. Sonst würde ich mich von ein bisschen Räucherwerk und Musik nicht so aus der Fassung bringen lassen.“

„Was soll unsereins dann erst sagen. Wir haben viel feinere Ohren und feinere Nasen“, denkt Dr. Taussig.

„Sie sind es wenigstens gewöhnt.“

„Sie sollten so langsam auch gewöhnt sein, schließlich stinkt und klingt es bereits seit Wochen jeden Abend so.“

 

Stimmt. Jetzt rieche ich es sogar manchmal im Supermarkt, neulich habe ich es im Kino gerochen. Wahrscheinlich sitzt der Geruch mittlerweile in meinen Kleidern. Es nützt nichts, alle Fenster und Türen zu schließen. Er ist in mir drin, er hat sich festgesetzt mitten in meinem Gehirn, mitten in meiner Seele. Und wie kann ich mich bei anderen über etwas beschweren, das mitten in meiner Seele sitzt? Das geht doch gar nicht, Dr. Taussig, das geht nicht. Dr. Taussig nickt.

 

So mit Taussig zu denken tut mir gut. Ich reibe mir mit dem Zipfel der Bettdecke die Augen trocken. Ich angle nach einem Papiertaschentuch aus der Box neben meinem Bett und putze mir die Nase. Dann lege ich mich auf die Seite und seufze. Dr. Blalock schmiegt sich in meine Armbeuge und schnurrt. Dr. Taussig sitzt am Bettende und haut mir eine Kralle in den Fußrücken.

 

„Aua!“ brülle ich und trete nach ihr. Das tut weh, Dr. Taussig, das wissen Sie genau. Warum tun Sie es bloß immer wieder? Ich habe es nicht verdient, Taussig. Nicht jetzt, nachdem ich es versucht habe. Mich zu beschweren, meine ich. Ich habe eine Abfuhr bekommen von dieser schrecklichen Frau, von dieser Hebamme. Hebamme und Heilpraktikerin, um genau zu sein. Heil-Praktikerin, was für ein Hohn! Sie macht mich krank, diese Frau! Er kommt nämlich aus ihrer Praxis, dieser widerliche süßliche Geruch, der uns seit Wochen belästigt. Ich entdecke es durch Zufall. Weil in dem Moment, in dem ich die Hinterhoftür öffne, ein bärtiger junger Mann aus der Praxis kommt. Er geht an mir vorbei, ohne mich anzusehen, ohne mich zu grüßen, durch die Tür, die ich ihm aufhalte. Vielleicht sieht er mich ja nicht. Er hat den Kopf gesenkt, die Schultern hochgezogen, die Fäuste geballt. Aber wütend wirkt er nicht, eher abwesend.

 

Vielleicht hat er auch deswegen die Praxistür offen gelassen. Eigentlich nur einen Spalt, aber es ist anscheinend eine von den Türen, die entweder zu oder sperrangelweit aufstehen, für die es keinen Zwischenzustand gibt. Meine Wohnungstür gehört auch dazu. Will ich, dass sie offen bleibt, muss ich etwas davor stellen, was sie vom Zufallen abhält. Die Praxistür der Hebamme öffnet sich ganz langsam und gibt den Blick frei auf den Praxisflur. Der Praxis entströmt der Geruch, der mich seit Wochen nervt, und ich gehe mitten hinein.

 

Die Musik hat aufgehört. Der Geruch kommt aus einem großen Raum. Ein schöner Raum, in warmen Farbtönen gehalten mit einem Salzstein-Springbrunnen und einem Regal voller Gymnastikmatten. Auf einer Kommode finde ich den Übeltäter. In einem Räucherstäbchenständer qualmt er friedlich vor sich hin. Das Fenster zum Hinterhof steht weit offen. Ist es wirklich möglich, dass ich dieses kleine Räucherstäbchen oben in meiner Wohnung rieche?

 

Die Hebamme ist nicht in diesem Raum, auch sonst niemand. Ich finde sie in einem anderen Raum. Sie sitzt am Schreibtisch vor einem Notebook, blickt auf das Display, eine Hand ruht neben der Tastatur, die andere liegt in einer geöffneten Schreibtischschublade zu ihrer rechten. Sie sieht nicht gut aus, ihre Augen sind rot und verquollen, auf dem Tisch liegt ein zerknülltes Papiertaschentuch. Außerdem hat sie einen kleinen Schnitt unterhalb des linken Auges, und der Bereich darum herum hat begonnen, sich bunt zu verfärben. Es riecht ganz merkwürdig. Unangenehm süß, aber nicht nach den Räucherstäbchen, nach etwas anderem. Keine Ahnung, was es ist.

 

Ich räuspere mich.

„Ja?“

„Die Musik...“

„Welche Musik?“

„Jetzt ist sie aus, aber vorhin...“

„Ja?“

„Sie ist zu laut. Und die Räucherstäbchen – mir wird schlecht von dem Geruch.“

„Und was kann ich dagegen tun?“

„Sie könnten – die Türen und Fenster schließen.“

„Soll ich ersticken?“

„Ich würde auch gerne die Fenster offen lassen.“

„Was hält sie davon ab.“

„Die Emissionen aus Ihrer Praxis.“

„Sie sind vielleicht eine Mimose!“ Sie lacht. „Kann ich Ihnen vielleicht einen meiner Kurse empfehlen, da - .“ Sie schiebt ein Faltblatt über den Tisch, ohne mich dabei anzusehen. „Das könnte helfen.“

 

Sie starrt auf ihren Bildschirm und schweigt. Ihre rechte Hand zuckt, erst jetzt sehe ich, dass sie einen silberfarbenen Gegenstand berührt. Ich kann nur eine Ecke davon erkennen. Es könnte ein Feuerzeug sein oder ein Zigarettenetui, vielleicht ist es auch ein Füller.

 

„Bitten entschuldigen Sie mich, aber ich habe gleich einen Kurs und muss das noch zu Ende bringen. Wir können ja ein andermal einen Termin vereinbaren.“

 

Im Augenwinkel sehe ich eine Bewegung. Mein Blick fällt auf einen Teller. Er steht auf einem Bücherregal an der Wand gegenüber. Fliegen haben sich auf etwas niedergelassen, was einmal ein Stück Kuchen gewesen sein könnte.

 

Irgendwas ist schräg hier, denke ich, irgendetwas stimmt nicht. Wahrscheinlich bin ich es. Meine bescheuerte Unfähigkeit, ihr klar zu machen, wie sie mich quält. Oder, dass ich mich überhaupt so quälen lasse. Egal, ich habe sowieso keinen Mut mehr. Mich fröstelt vor Feigheit, und ich weiche zurück, langsam, Schritt für Schritt, rückwärts, ohne sie aus den Augen zu lassen, bis ich ihre Bürotür erreicht habe. Dann mache ich mich schnell aus dem Staub.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke