Nicole Müller:

Let's talk about sex

aus "Mein heimliches Auge" XI


©Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, www.konkursbuch.de

 Erschien erstmals in »Mein Heimliches Auge XI«, 1996, ISBN ‎ 978-3-88769-110-3. Nachgedruckt anlässlich 20 Jahre lesbisches Auge in »Mein lesbisches Auge 18« 2018.

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Sagen, wie es ist. Den Weg nachzeichnen, sich erinnern, die Gegenwart in den Blick nehmen. Sich aussetzen, bar jeder Verstellung, ohne Maske, es sei denn jener, die dem eigenen Gesicht ähnelt. Worüber man nicht sprechen kann, darüber soll man schreiben. So, let’s talk about sex!

Über den Rausch, das Delirium, den Absturz ins Ungewisse, die lustvolle Panik, den ermüdenden, unoriginellen Beischlaf, die Auflösung der Körpergrenzen.

Das Zweitschönste am Sex ist das Reden darüber.

Was ist Sex? Keine Ahnung. Ich habe nie begriffen, was das ist, und vielleicht ist es gerade das: Sex ist das Unbegriffene, das, was sich jeder Definition entzieht. Als Lesbe bin ich vielleicht früher als andere in diese würgende Definitionsleere hineingestoßen worden. Die Frage nämlich, die mich während der Pubertät ungeheuer beschäftigte, war: Wann kann man von zwei Menschen sagen, dass sie „miteinander geschlafen“ haben? Das beschäftigte mich deshalb so sehr, weil mir schien, dass es bei mir kein Pendant gab zum Kriterium meiner Schulkolleginnen und Schulkollegen. Die Frage „Hast du schon mit jemandem geschlafen?“ bezog sich immer auf die Penetration. Ich war in Verlegenheit, ich befand mich im Ungewissen über meine Unschuld. Hatte ich schon mit jemandem geschlafen? Ich hatte mit Philipp stundenlang herumgeknutscht, war dabei zu einem Orgasmus gekommen, schämte mich dafür, denn irgendwie schien es mir unreif, beim Küssen zum Orgasmus zu kommen. Ich hatte schon einmal etwas von „Schnellschüssen“ gehört, von Männern, die sich „nicht zurückhalten“ können. In den Reden der anderen waren das Weichlinge, Buben, die gleich spritzen, ehe es losgeht. Keine richtigen harten Männer, die es stundenlang treiben können. Ich hatte in Philipps Hose gelangt und etwas berührt, das ich mir braun und ledrig vorstellte. Es war ganz hart, ich brachte die Handgefühle überhaupt nicht zusammen mit den optischen Eindrücken, die ich sonst von dieser Gegend hatte. Philipp trug immer hellgraue Cordhosen, und da war so eine sanfte, nach unten weisende Beule, aber was ich mit meinen Fingern berührte, stand in jeder Hinsicht quer. Wäre ich mutiger gewesen, hätte ich um Anblick gebeten, aber ich war nicht mutig. Ich brannte vor Neugier, ich hätte gern gewusst, wie sich sein Schwanz zur Unterhose verhielt, denn irgendetwas stimmte da nicht. Es fühlte sich einfach anders an, als es in der Badehose aussah. Ich war gar nicht mutig, sondern fürchterlich beelendet. Da war diese topografische Orientierungslosigkeit, und dann küsste mich Philipp, streichelte meine Brüste, und ich hatte einen Orgasmus. Er hatte keinen, er war eben stark. Nur ich hatte einen und fühlte mich wie ein Mann, wie ein Weichling mit ejaculatio praecox.

Mit Philipp also hatte ich nicht geschlafen, aber vielleicht mit Hanna? Hanna war meine erste große Liebe und fünfzehn Jahre älter als ich. In einem Hotelzimmer in Rom öffnete sie meinen Reißverschluss und wichste mir eins.

Ich wollte sie berühren, aber sie verbot es mir. So lagen wir da, mehrere Tage hintereinander. Sie wichste mich, und ich war gedemütigt vom Verbot, dasselbe für sie zu tun. Sie war Herrin der Lage. Sie reiste vorzeitig aus Rom ab, ließ mich allein in Rom stehen, ich durfte sie nicht einmal auf den Flughafen begleiten, nur bis zum Taxistand, dabei trug ich ihren Regenschirm. Hinterher wollte sie mich nicht mehr sehen.

„Warum hast du das getan?“, fragte ich sie. Sie hatte eine sachliche Erklärung parat: „Ich spürte, dass du erregt warst, deshalb. Es ist ekelhaft, erregt zu sein, ohne erlöst zu werden.“ Ich liebte sie, aber sie tat mir lediglich einen Gefallen. Hatte ich mit ihr geschlafen? Hatte vielleicht nur ich mit ihr geschlafen, aber sie nicht mit mir? Oder musste man sagen, dass sie mit mir geschlafen hatte, aber ich nicht mit ihr? Wie war das eigentlich bei Frauen? Wo war da das Kriterium, um behaupten zu können, man hätte miteinander geschlafen? Wenn man sich geküsst hatte, wenn man nackt miteinander war, wenn man sich an den Genitalien berührte, wenn man den Finger in die Scheide gesteckt hatte, wenn man einen Orgasmus gehabt hatte, wenn die eine von beiden das alles getan hatte, wenn die eine von beiden einen Teil von diesem allem getan hatte, wenn beide alles von allem gemacht hatten oder wie? Hatte man miteinander geschlafen, wenn man die Kleider anbehalten hatte? Ich ging durch das von Hanna entleerte Rom, wanderte durch die Museen und bekam Schwächeanfälle, plötzlich einsetzenden Schwindel.

Eine der furchtbarsten Erinnerungen ist, wie ich in einem hellblauen Regenschutz auf einer Parkbank der Villa Borghese sitze, zitternd, einsam, vollkommen entkräftet und halbtot vor Angst.

„Nah ist/und schwer zu fassen der Gott“, schreibt Hölderlin in „Patmos“. „Wo aber Gefahr ist, wächst/das Rettende auch.“ Die Definitionsleere als Erweiterung, als Terra Incognita, die ich erobern konnte, ohne dass die Grenzen bereits feststanden. Das Unbestimmte wurde zu einem „échappatoire“, in dem ich mich austoben konnte ohne schlechtes Gewissen. Manchmal denke ich, dass ich nur lesbisch geworden bin, weil die Homosexualität für meine Eltern etwas insgesamt so Unmögliches war, dass ich innerhalb dieses Unmöglichen frei war. Sex vor der Ehe, damit bin ich aufgewachsen, ist verboten. Wenn es gar keine Ehe gibt, dann hätten meine Eltern höchstens von mir verlangen können, gar keinen Sex zu haben. Sie taten das auch. „Es ist nicht schlimm, dass du so bist“, sagte meine Mutter – Bibel in der Hand – zu mir. „Du darfst es nur nicht ausleben.“ Das war der Widerspruch, auf den ich nur gewartet hatte, denn Petting mit Jungs hatte meine Mutter geduldet, ungern zwar, aber doch.

 

Hier ruft meine Geliebte an. Ich möchte stöhnen. Am Telefon tue ich das auch. Ich stöhne und klage ein bisschen. Ich erzähle ihr dreckige Geschichten, sie lacht. Wart’s nur ab, sagt sie, und es droht in ihrer Zart-bitter-Schokolade-Stimme. Sie wird mich schon hernehmen, darauf ist Verlass. Meine Geliebte riecht nach Parfüm, Leder und Tabak, manchmal auch nach Parfüm, Leder und Sex. Manchmal riecht sie nur nach sich, nach Schweiß, Tränen und bitterem Schamhaar. Jedenfalls riecht sie gut. Sie trägt grobe schwere Lederjacken und erinnert mich immer an einen Cartoon von Waechter. Zwei Riesen schauen über eine Bergkette hervor und auf einen Autostau herab, sagt der eine zum andern: „Aber innendrin sind sie ganz zart.“ Innendrin ist meine Geliebte ganz zart, überall innendrin ist meine Geliebte zart. Es gibt verschiedene Innendrins. Wenn ich zum Beispiel die Lederjacke, gekühlt vom Winterwetter, aufzerre und meine Arme um ihre Hüften schlinge, dann ist es außen an meinen Armen brettig und schwer und innen an meinen Armen heiß und zart. Weiter innendrin ist ihr Herz, und das schlägt für mich. „Ich sage Ihnen, Madame, würde man ein Herz auf dem Teller gebären, es würde sagen: ‚Liebe‘ und zucken wie ein abgetrennter Froschschenkel.“* So ein zuckendes, leidenschaftlich gutmütiges Herz hat meine Geliebte, ganz zu schweigen von der Kapelle, die zur Kathedrale wird. Meine Geliebte weitet sich, wenn sie erregt ist, das ist eine banale Tatsache, aber für mich ist es gar nicht banal, sondern ein Wunder. Eine Banalität ist eine Sache, die für die Allgemeinheit völlig uninteressant ist, für den einzelnen aber sehr bedeutsam sein kann. Ich hasse das Wort „banal“, weil es jede Diskussion unterbindet und weil mir scheint, dass sich alle für das Individuum entscheidenden Dinge im Rahmen des Banalen abspielen. Man wird geboren, man hat diese und diese Eltern, diese und diese Bildung oder Nicht-Bildung, man hofft und lebt, man verliebt sich und hat Schmerzen, man träumt und bekommt Kinder, man verliert einen Menschen an den Tod, man wird verlassen, leidet wie ein Hund, man ist einsam und findet Freunde, man stirbt. All das ist banal, aber entscheidend. Meine Geliebte also weitet sich im Verlaufe des Liebesaktes, was vielleicht banal und in jedem Aufklärungsbuch nachzulesen ist, für mich aber ist es ein Wunder und sehr erregend. Ich kann einen Finger in sie graben, ich kann zwei oder drei Finger in sie bohren, ich kann die ganze Hand in ihr versenken, ich kann sie traktieren mit einem Vibrator, mit einer Gurke, mit was weiß ich. Ich traktiere sie mit der einen Hand und halte sie mit der anderen. Ich halte ihr Gesicht, meine Finger beruhigen ihre Haut, ich liebe sie, ich fahre ihr über die Augen, ich flüstere mit rauer Stimme Koseworte in ihr Ohr, ich umfasse ihr Schulterblatt, ihr warmes, schönes, sanftes Schulterblatt, ich lecke ihren Rücken, ich beschimpfe sie als Hure, als Schlitzgeige, als dreckige Fotzenleckerin, ich lösche die Beschimpfungen mit Zärtlichkeiten. Wir haben es gut zusammen, sie umschlingt mit den Beinen meine Hüften. Da ist ihr Blick, da sind ihre forschenden Augen, wenn sie meine Brustwarzen zwischen die Fingerspitzen klemmt und die Unbeteiligte mimt. Ich stöhne, ich bettle um Erlösung, sie heftet meine Arme aufs Bett. Sie liebt mich, sie ruft meinen Namen, sie ergießt sich auf mir, ihr Ejakulat spritzt heiß auf mein Geschlecht. „Femmes fontaines“ nennen es die Franzosen. „Sie ist eine ganz Feuchte“, schrieb Henry Miller in Unkenntnis der weiblichen Möglichkeiten, G-Point, weiß die moderne Sachliteratur. Sex ist die Kraft, das Leben zu feiern. Mir ist egal, was die Feministinnen sagen, mir ist egal, was Elfriede Jelinek sagt, mir ist egal, was meine Eltern sagen und die Nachbarn. Ich will Sex. Ich bin eine Frau mit weit gespreizten Beinen, ich will mit stoßenden Bewegungen erfüllt werden, ich will bumsen, bis meine Geliebte schreit, ich will im Erschöpfen noch mit schmetterlingsgleichen Händen berührt werden, ich will hören und vergehen. Meinen Namen will ich hören, undeutlich und selbstvergessen hervorgestoßen von der Frau, die ich liebe, die mir ihr schweiß- und sekretionsnasses Haar übers Gesicht streicht. Ich will murmeln und röhren, hecheln und säuseln, ich will den Atem verlieren und mich ausschnaufen unter warm herumstreunenden Händen.

Ich will daliegen, halbtot und befriedigt, mit trockenem Mund und stumpfem Gehör, daliegen mit diesen tauben Körpergliedern, die nachzucken, aus denen alles Blut gewichen ist, um in die Körpermitte zu fließen und sich dort gewaltsam zu entladen. Ich will Sex. Sex will ich. Sex und Sprache.

 

Es gibt eine lange Diskussion darüber, ob Frauen über Sexualität sprechen können, ohne männliche Muster zu reproduzieren. Fast alle sagen, nein. Fast alle sagen, dass es für Frauen keine Sprache über Sexualität gibt, die sie nicht erniedrigen würde. Fast alle plappern diesen Unsinn nach, fast alle fahnden verzweifelt nach der weiblichen Sprache, nach der weiblichen Sexualität, nach der weiblichen Was-weiß-ich. Fast alle zementieren damit den binären Blödsinn des Patriarchats. „Die Lust“, schreibt Barbara Sichtermann, „ist unteilbar.“ Ich glaube nicht an eine weibliche Sexualität, ich glaube nicht an eine männliche Sexualität, ich glaube an einen Raum aus Lust und Schmerz, der nur genossen werden kann, wenn die Rollen geteilt werden dürfen. Man hat es versäumt, den Männern begreiflich zu machen, was ihnen entgeht, wenn sie sich den Wonnen der Hingabe verschließen, den Frauen versucht man noch immer zu verbergen, dass in der sexuellen Aggression Dynamit an Lust steckt. Ich rede weder von „Blüemlisex“ noch von Vergewaltigung, ich rede von Wollust und Einverständnis. Die Mär vom kuschelweichen weiblichen Sex ist der Lust ebenso sehr abträglich wie die Legende vom männlich-rammelnden Bock. Natürlich gibt es die weichgespülte Liebhaberin, natürlich gibt es den raspelnden Macker, aber entgeht ihnen da nicht etwas? Ist da nicht etwas abgespalten worden, das letztlich die Ekstase verhindert? Ist nicht diese Teilung von Aktivität/Passivität mit anschließender, geschlechtsspezifischer Zuordnung die eigentliche Katastrophe? Werden nicht überhaupt eine Menge Lügen erzählt, wenn das Thema Sexualität aufs Tapet kommt? Ich will vögeln und gevögelt werden, und solange ich eine Seele und Genitalien habe, habe ich auch eine Sprache, um darüber zu reden. Die Wörter sind das Brot, der Sinn ist die Konfitüre, ich lasse mich nicht mundtot machen. Ich nehme die Sexwörter und spachtle sie mit Butter und Himbeermarmelade. Ich raube dem Patriarchat das Brot und belege es mit Eigensinn. So einfach geht das mit dem Reden über Sex, und wer es nicht begreifen will, soll sich ins Knie ficken.

Sex ist wie Kochen. Es kann eine Kunst sein oder keine. Es kann Fast-Food sein oder Nouvelle Cuisine oder solide Hausfrauenkost. Guter, befriedigender Sex ist eine Kunst, aber keine vom Leben abgehobene Kunst, sondern eine aus dem Leben schöpfende Kunst. Die guten Liebhaberinnen und Liebhaber sind Sexkünstler. Sexkünstler müssen Fantasie haben, Intuition, Sensibilität, Erfahrung schadet nicht. Sexkünstler müssen alles haben, was andere Künstler auch haben, und wie bei anderen Künstlern gelingt ihnen nicht jedes Werk. Manchmal ist der Sex auch unter Sexkünstlern fade und langweilig. War das jetzt Sexkunst oder keine? Das muss man gar nicht lange bereden, das weiß man. Jede und jeder weiß das, ob man jetzt gerade guten oder nicht so guten Sex genossen hat. Man spürt es, ob es gut war oder nicht. Man sagt es vielleicht nicht, aber man weiß es hundertprozentig. Das ist das Schöne an der Sexkunst. Dass wir alle Experten sind mit einem treffsicheren Urteil. Meine Geliebte zum Beispiel ist eine hervorragende Sexkünstlerin, aber manchmal ist es trotzdem öd mit ihr. Kann sein, weil ich nicht so recht in Stimmung bin, kann sein, dass sie nicht recht in Stimmung ist, kann sein, dass wir etwas ausprobiert haben, was in der Vorstellung sehr erregend, in der Realität aber nicht so erregend war. Ich würde meiner Geliebten nie sagen, das war jetzt kein guter Sex. Nie würde ich das sagen, denn ich weiß, dass sie eine wahre Sexkünstlerin ist, und Künstler sind sehr empfindlich. Es ist eine Frage des Respekts. Künstler soll man ermutigen, nicht kritisieren.

 

Vielleicht, denke ich plötzlich, ist es doch nicht so einfach mit der Sprache. Man hat dieses Wort Sex, und allein schon dadurch, dass es da ist, ist es eine Sache und etwas anderes als zum Beispiel Erotik oder Liebe. Meine Geliebte war heute Nachmittag da, meine geliebte Sexkünstlerin. Wir haben in der Küche gesessen, Kaffee getrunken und Sandwiches gegessen. Wir haben geschwatzt. Hin und wieder haben wir uns geküsst. Ich habe sie zum Beispiel auf die Stirn geküsst, als ich an ihr vorbeimusste, um den Kaffee vom Herd zu nehmen. Sie hat mich beim Essen mal unterbrochen, um meine Hand zu nehmen und an ihr Gesicht zu legen. Wollen wir uns noch kurz hinlegen? Ich war müde. Wir haben uns angezogen aufs Bett gelegt und weitergeschwatzt. Ein bisschen näher waren wir schon. Meine Geliebte hatte die Arme unter dem Kopf und sprach zur Decke. Ich lag seitlich auf dem ausgestreckten Arm, hörte zu, erwiderte. Wir haben geschwatzt und geschwatzt, hin und wieder die Stellung verändert. Zum Beispiel habe ich meinen Kopf in ihre Halsmulde gebettet, zum Beispiel fuhr sie mit ihrer Hand unter mein T-Shirt. Es war eher beiläufig und vertraut, warum soll sie sich beim Schwatzen die Hand abfrieren, wenn es meinen warmen Rücken gibt?

So hat es irgendwie angefangen, mitten im Reden, und dann haben wir gevögelt oder Liebe gemacht oder wie das auch immer heißen soll. Wir haben geseufzt und geschrien, waren nass und rochen nach Bordell. Dann haben wir weitergeschwatzt, ohne Unterhosen diesmal, aber immer noch in Pullovern, meine Geliebte trug auch noch eine einzelne Socke. Ich hatte sie gebeten, eine Socke anzubehalten, ich weiß nicht, warum, irgendwie erschien es mir sexy.

Die Wollust zündet sich in einem verborgenen Labyrinth, dessen Gänge wir nur schemenhaft erkennen, wenn wir an seinen Wänden entlangtaumeln. Verloren im Dunkel, in einer Mitte, zu der wir keinen Schlüssel haben, spielt sich ein Ritual ab, eine Inszenierung, eine Explosion vielleicht, deren Druckluft uns in die Arme der anderen schleudert. Man spürt die Wirkung und kennt die Ursache nicht. Was erregt? Was erregt mich? Oft ist es nicht das, was gemeinhin als erregend gilt. Zuweilen sind es die Gegenstände in der Küche meiner Geliebten, die stumme Verschwiegenheit der Pfannen und Töpfe, der stille Glanz der Dinge, mit denen sie sich umgibt. Auf ihrem Schreibtisch liegen Schere, verstreute Bücher, die Agenda, Notizzettel, und ich stelle mir vor, wie sie dieses oder jenes berührt, geistesabwesend, unaufmerksam für den einzelnen Gegenstand, solange er die erwünschte Funktion hergibt. Sie ist die Handwerkerin ihres Lebens, ganz unabhängig von mir. Noch während ich schaue, verwandle ich mich in diese Gegenstände, um allgegenwärtig zu sein, ohne zu stören, um meiner Geliebten da nahe zu sein, wo die Nähe das Eigentliche zerstört. Ihrer Vereinzelung geselle ich mich zu, und aus diesem Pakt mit den Dingen strömt eine rätselhafte, fast schmerzhafte Erregung, die nach Erlösung verlangt. Zuweilen ist es ein Wort, ein Satz oder auch nur schon eine Intonation. Zwischen dem abgebrauchten Sprachgerümpel langer Tage, zwischen flüchtig ausgetauschten Informationen eine winzige Akzentverschiebung, die in den Körper fährt, unmittelbar verwandelt in Begehren, ohne dass man wüsste, warum. Wie sie meinen Namen ausspricht, auf beiden Silben gleichermaßen betont, oder dann ein ungewöhnliches Wort, das ich in ihrem Mund nicht vermutet hätte, ein Findling im gewohnten Sprachfluss. Einmal lehnte sie mit dem Rücken zur Küchenkombination, hatte die Arme verschränkt, während ich sprach, und dann bemerkte ich ihren Blick, der von weit her auf ihr eigenes Inneres gerichtet schien. Ich brach ab, und in der Stille, die sich aus der Verspätung ergab, mit der meine Geliebte in die Gegenwart mit mir zurückkehrte, wie man in einen aus dem Tritt gekommen Schritt wieder einfällt, begehrte ich sie mit einer bestürzenden Plötzlichkeit. Ich liebe die Ferne in ihr. Die Ferne erregt mich, aber es ist niemals abzusehen, wann sie mich streift. Ein Teil der Erregung ist deren Unberechenbarkeit. Man hat das Zündholz nicht fallen hören, aber der Flächenbrand ist da.

 

Jetzt wird es fad. Ich bin plötzlich müde, empfinde einen Überdruss dem Thema gegenüber, es ist fast wie die postkoitale Verachtung. Ich liege in diesem Text drin wie in einem zerwühlten Bett mit körperwarmen Laken. Das gibt es doch manchmal, dass man nach dem Vögeln so im Bett liegt und sich plötzlich krank fühlt, dass man plötzlich das Bedürfnis hat nach einer Dusche, nach kalter, frischer Luft, nach Kleidung, die vor Sauberkeit knistert, nach etwas ganz anderem als Sex. Manchmal verkommt die Intimität zum Mief, und dann muss man aus diesem Mief heraus. Das sind die Augenblicke, in denen ich denke, dass die Erregung für immer verloren ist. Ich liege im Bett und sehe zu meiner Geliebten hinüber, sie wendet den Kopf und schenkt mir einen so zärtlichen Blick, dass es mir im Herzen wehtut. „Plötzlich“, schreibt die russische Schriftstellerin Valeria Narbikova in einer Szene von „Flüstergeräusche“, „wollte sie, dass Don Jean verschwände, dass er plötzlich verduftete; nicht so, dass er aufstünde, sich anzöge und ginge, sondern dass er sich im Liegen auflöste, und dann würde sie selbst aufstehen, sich anziehen und gehen. Er aber würde davon nichts wissen, es nie erfahren und nicht erraten. Aber er lag materiell da und schaute materiell. Und er tat ihr so leid als Materie, nicht als Mensch, einfach als Körper, der dalag.“

 

Das Begehren ist vorüber, die Erregung ist vorüber, ich sehe zu meiner Geliebte hin, sie ist ein materieller Körper aus Haut und Knochen, sie hat Falten im Gesicht und auf dem Bauch, sie hat blaue Schatten unter den Augen, sie sieht ermüdet aus und wird immer älter werden und eines Tages sterben. Ich sehe jede Unzulänglichkeit ihres Körpers, ich sehe, wie vergänglich sie ist, und diese Vergänglichkeit tut mir so leid, dass ich meine Geliebte ganz fest umarmen muss, ich umarme sie praktisch aus Mangel an Liebe.

 

So ist es, und das ist alles. Ich muss jetzt aufstehen und gehen.

 

 

 

* Djuna Barnes, Nachtgewächs

 


Nicole Müller, *1962, Schweiz. Bücher: Denn das ist das Schreckliche an der Liebe (oman, 1992), Mehr am 15. September. Eine Verrücktheit in vier Akten (1994), Kaufen! (Roman, 2004). Nach einer abgebrochenen Lehre als Portefeuillerin (Taschenmacherin) Studium des Französischen, Spanischen und Russischen in Zürich und Bochum. Arbeit als Werbetexterin, Journalistin und Übersetzerin in Zürich. Für ihr Schreiben erhielt Nicole Müller mehrere Auszeichnungen, u.a. den Zürcher Journalistenpreis.