Yoko Tawada

Eine leere Flasche

Unsere Wohnung in Tokyo, die sich in einer Siedlung befand, trug die Nummer zwei-sechs-zwei-null-drei. In dieser Siedlung gab es viele Mädchen in meinem Alter. Eines dieser Mädchen fiel mir besonders auf, weil es sich wie ein Junge als »boku« bezeichnete. Wir gingen zusammen zur Grundschule. Die meisten Mädchen in dem Alter bezeichneten sich als »atashi«, einige frühreife Mädchen dagegen schon als »watashi«, ein Mädchen aus einer vornehmen Familie benutzte das Wort »atakushi«, dieses Wort roch nach Zypressenholz. Die meisten Jungen nannten sich »boku«, einige freche oder stolze Jungen dagegen »ore«. Es gab natürlich keinen Jungen in dem Alter, der sich schon als »watashi« oder »watakushi« bezeichnet hätte. Das hätte lächerlich geklungen, dafür mussten sie noch viel älter werden.

Ich hatte Schwierigkeiten mit all diesen Wörtern, die »ich« bedeuten. Ich fühlte mich weder wie ein Mädchen noch wie ein Junge. Als Erwachsene kann man sich in das geschlechtsneutrale Wort »watashi« flüchten, aber bis man so weit ist, ist man gezwungen, ein Junge oder ein Mädchen zu sein. Wie einfach wäre meine Kindheit gewesen, wenn ich eine andere Sprache – zum Beispiel Deutsch – gesprochen hätte. Ich hätte dann einfach immer »ich« sagen können. Man muss sich weder weiblich noch männlich fühlen, um das Wort »ich« zu verwenden.

In der Kindheit vermied ich es, die Worte, die es im Japanischen für »ich« gibt, zu benutzen. Wenn ich betonen wollte, dass ein Wunsch mein Wunsch war, benutzte ich das Wort »diesseits»: »Was diesseits betrifft, ist es gut, wenn wir morgen in den Zoo gehen. Was meine Schwester betrifft, ist es nicht besonders günstig, aber machbar. Also gehen wir morgen in den Zoo.« Ich fühlte mich wie ein Ufer und auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses sah ich meine Gesprächspartnerin. Zwischen uns lag ein Fluss. Das Wasser war tief und unruhig, aber wenn man wollte, konnte man den Fluss überqueren.

Der Raum zwischen den deutschen Worten »ich« und »du« hingegen bleibt abstrakt, man kann ihn nicht durchqueren.

Das Mädchen, das das Wort »boku« benutzte, beherrschte einige beneidenswerte Künste und wurde deshalb von den anderen Kindern respektiert: es konnte mit seiner Zunge eine Löffelform bilden, vom Balkon des ersten Stockes hinunterspringen, giftig-bunte Würmer und Spinnen mit nackten Händen anfassen, Grasflöten blasen und auch noch Klavier spielen. Eines Tages fragte ich das Mädchen direkt, warum sie »boku« sagte. Das Mädchen antwortete einfach: »Weil ich meistens das Gefühl habe, dass ich ein boku bin. Ehrlich gesagt gibt es ab und zu Momente, in denen ich mich wie ein Mädchen fühle, aber das ist selten.«

Man spricht im Wetterbericht von der sogenannten gefühlten Temperatur: je nachdem, wie stark der Wind weht oder wie feucht die Luft ist, empfindet man ein und dieselbe Temperatur höher oder niedriger. Genauso gibt es wahrscheinlich ein gefühltes Geschlecht. An einem windigen Tag am Pazifik fühlte ich mich männlicher als sonst, an einem schwülen Augusttag hingegen war ich eindeutig ein Mädchen.

»Isst du nie Eis mit Obst?«, fragte ich das Mädchen. »Doch, doch«, antwortete es und grinste. »Dann bist du doch ein Mädchen!«, erwiderte ich. Der große Eisbecher mit bunten Obstschnitten galt damals noch ausschließlich als eine Speise für Mädchen und Frauen. Ein Junge oder ein Mann mussten so etwas heimlich essen und sich dabei schämen.

Das Mädchen, das sich »boku« nannte, hatte Schuhe für Jungen an und auf seinen Bleistiften befanden sich männliche Comicfiguren. Der Schulranzen war zwar rot wie bei den anderen Mädchen, aber der Regenschirm war blau und trug das Bild eines Roboters, er war also männlich. »Hast Du zu Hause Mädchenstäbchen oder Jungenstäbchen?«, fragte ich das Mädchen. Es zuckte mit den Schultern und verriet mir, dass es Stäbchen mit Obakyu habe. Die Comicfigur »Obakyu« war – wie der heutige »Pokemon« – für Jungen und für Mädchen gedacht.

Anders als dieses Mädchen, das sich »boku« nannte, konnte ich mich nicht als »boku« fühlen. Die Jungen waren mir fremd, ich spielte nur mit Mädchen, ohne mich aber selbst als Mädchen zu fühlen.

Als ich später studierte, sagte mir ein Freund, dass er sich eigentlich immer als »boku« bezeichne und daher sich in einen Mann, der das Wort »ore« benutzt, verlieben könne, ohne homosexuelle Fähigkeiten zu besitzen. Die Männer, die sich als »ore« bezeichneten, schienen ihm die Eigenschaften zu besitzen, die er selber nicht besaß und die ihn deshalb faszinierten. Er konnte nicht erklären, welche Eigenschaften das waren. Ein »boku« habe in dieser Gesellschaft einen anderen Ort als ein »ore«, sagte er, »deshalb verhalten sie sich anders.« Als er mir das sagte, wurde mir bewusst, dass die »ore«-Männer auf mich körperlich anders wirkten als die »boku«-Männer. Es gebe unter den Erwachsenen also mindestens vier Geschlechter, sagte ich zu ihm, »ore«,»boku«,»atashi« und »watashi«.

Das Mädchen, das sich »boku« nannte, verlor ich irgendwann aus den Augen. Das Problem der Selbstbezeichnung verlor ich auch aus den Augen. Denn ich zog nach Europa und fand das Wort »ich«, bei dem man sich keine solchen Gedanken mehr machen musste. Ein Ich muss kein bestimmtes Geschlecht haben, kein Alter, keinen Status, keine Geschichte, keine Haltung, keinen Charakter. Jeder kann sich einfach »ich« nennen. Dieses Wort besteht nur aus dem, was ich spreche, oder genauer gesagt aus der Tatsache, dass ich überhaupt spreche. Das Wort zeigt nur auf den Sprecher, ohne eine weitere Information über ihn hinzuzufügen. »Ich« wurde zu meinem Lieblingswort. So leicht und leer wie dieses Wort wollte ich mich fühlen. Ich wollte sprechen, das heißt, durch meine Stimme Schwingungen in die Luft bringen, ohne mich entscheiden zu müssen, welchem Geschlecht ich angehöre.

Mir gefällt außerdem, dass ein Ich mit einem »I« beginnt, ein einfacher Strich, wie der Ansatz eines Pinselstriches, der das Papier betastet und gleichzeitig die Eröffnung einer Rede ankündigt. Auch »bin« ist ein schönes Wort. Im Japanischen gibt es auch das Wort »bin«, das klingt genau gleich und bedeutet »eine Flasche«. Wenn ich mit den beiden Wörtern »ich bin« eine Geschichte zu erzählen beginne, öffnet sich ein Raum, das Ich ist ein Pinselansatz und die Flasche ist leer.

 

© Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke

aus Yoko Tawada "Überseezungen" ( 2002, 6. Auflage 2021)