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Der Anfang des Buchs:
Ende August
Auf den ersten Blick gab es nichts Bemerkenswertes in der Wohnung. Auch nichts Abstoßendes. Ganz im Gegenteil. Gepflegter Altbau. Abgeschliffene Dielen. Berliner Kastendoppelfenster, gut in
Schuss, sie mussten erst in jüngster Zeit ausgebessert worden sein. Im Flur hinter der Wohnungstür stand sein Fahrrad an die Wand gelehnt. Ein Rennrad. Ziemlich teuer. Knallrote Einbauküche mit
hochglänzenden Oberflächen, wie sie vor einigen Jahren modern gewesen waren. Etwas zu schrill für ihren Geschmack. Hier und da Teppiche auf den Dielen. Ein kleiner Sekretär mit Schubfächern und
Laptop darauf. Bücherregale. Maßanfertigungen, wie es aussah.
Es gab an der Wohnung nichts auszusetzen. Kein herumstehendes Geschirr mit angetrockneten Essensresten, keine getragenen Socken oder Unter-hosen auf dem Fußboden, nicht die kleinste
Nachlässigkeit. Sogar die Fenster mussten erst kürzlich geputzt worden sein. Und trotzdem stimmte etwas nicht, ohne dass sie es sofort hätte benennen
können.
Die Möbel waren eindeutig teuer und mit Bedacht ausgewählt. Alles passte zueinander. Hier hatte sich jemand ganz bewusst ein Zuhause zusammengestellt, das etwas hermachen sollte. An der
Einrichtung lag es also nicht. Auch nicht am Ausblick. Bäume zur Straße, Bäume im Hof, die allerdings reichlich angegriffen von der anhaltenden Trockenheit wirkten. Himmel. Heute mit einigen
wenigen, perfekt geformten Wolken. Es lag auch nicht daran, dass in der Wohnung keine Fotos zu sehen waren, Urlaub, Familie, Freunde, das Übliche, das bei nahezu allen Leuten hing, oder dass es
nicht bewohnt gewirkt hätte. Zwar waren alle Zimmer penibel sauber und aufgeräumt – fast ein bisschen zwangsgestört –, auch die Küche, aber ganz offensichtlich bewohnt, denn es roch schwach nach
Zwiebel und Curry.
Es war sehr still. Viel zu still. Das musste es sein. Seltsam, dass sich Stille unangenehm anfühlen konnte. Sie schaltete das Radio in der roten Küche ein. Schon besser. Sogar der Müll war erst
kürzlich geleert worden, alle Sorten, Hausmüll, Plastik, Papier. Im Radio kamen Nachrichten. Die aktuellen Corona-Inzidenzen für Berlin, die jetzt im Sommer erwartungsgemäß sanken, Wetter, kein
Ende der Hitze in Sicht, Verkehrsmeldungen, Stau auf dem Mehringdamm und dem Tempelhofer Damm, Stau auf der Skalitzer Straße, irgendwo in Brandenburg Tiere auf der Fahrbahn, S-Bahn-Linie wegen
eines Notarzt-einsatzes unterbrochen, Schienenersatzverkehr eingerichtet. Danach ein alter Song aus den Achtzigern: Fade to Grey von Visage.
Sie öffnete den Kühlschrank. Der Inhalt fremder Kühlschränke war immer aufschlussreich und bot auch einigen Unterhaltungswert. In der unteren Schale Gemüse, wie es vorgesehen war. Gurke, Paprika,
Tomaten, Pilze. Weiter oben eine verschließbare Box mit Aufschnitt, eine zweite mit verschiedenen Käsesorten. Alles sehr ordentlich und sauber. Man hätte ein Foto davon machen und es als
Werbebild für Kühlschränke verwenden können. Tofu »Curcuma«. Büffelmozzarella. Ein großes Glas Bio-Joghurt Natur. Neben einer Packung Milch eine Flasche Prosecco, außerdem eine angebrochene
Flasche Weißwein, noch zu zwei Dritteln voll. Sicher nicht billig. Hier war nichts billig. Sie bekam sofort Lust auf ein kühles Glas Weißwein. Schöne Möbel, blauer Himmel, Bilderbuchwolken, rote
Küche. Es war strahlend hell und ungefähr siebzehn Uhr. Vielleicht ein bisschen zu früh für Wein? Ach was. Nicht zu früh. Genau richtig. Jetzt und hier. Sie suchte in den Schränken und fand bald
die richtigen Gläser. Stilvoll musste es schon sein, alles andere hätte nicht zu dieser Wohnung gepasst. Sehr viele Gläser, mehr als zwölf Stück beim schnellen Durchzählen, natürlich sowohl für
Rot- als auch für Weißwein.
Sie schenkte sich ein und trank das Glas noch vor dem Kühlschrank zur Hälfte leer. Dazu hatte sie niemand eingeladen. Oder doch, sie selbst hatte sich eingeladen. Sie füllte nach. Trank. Füllte
nach. Auch am Kühlschrank hing nichts Persönliches, mit Magneten befestigt, wie in den meisten anderen Wohnungen. Im Geschirrspüler befanden sich nur ein Teller, eine Müslischüssel, eine Tasse,
ein Löffel, ein Messer. Sie wechselte von der Küche auf den Balkon, Fade to Grey noch im Ohr. Auf dem Balkon standen ein kleiner Tisch, zwei Stühle und seitlich ein Liegestuhl. Auch hier musste
er tief in die Tasche gegriffen haben, denn es handelte sich garantiert nicht um Möbel aus dem nächstbesten Baumarkt. Die vielen Weingläser, der Esstisch innen mit sechs Stühlen – wozu brauchte
er sechs Stühle? –, die Balkonmöbel, es wirkte so, als käme ständig Besuch in großer Zahl, der formvollendet bewirtet wurde. Das bezweifelte sie.
Sie ging mit ihrem leeren Glas zurück in die Küche, aß, ohne einen Teller zu benutzen, ein Brot mit türkischem Spinataufstrich, wozu sie auch niemand eingeladen hatte. Dabei krümelte sie den
makellosen Boden voll, oh, das würde er sicher hassen, er würde Zustände kriegen und sofort zu Handfeger und Kehrschaufel greifen. Mit einem neuen Glas Wein – wie viele waren es jetzt schon gegen
siebzehn Uhr? Egal – schritt sie die Wohnung ab. Genau deswegen war sie ja hergekommen. Sie wollte sich in Ruhe umschauen, die Räume auf sich wirken lassen. Im Badezimmer Waschmaschine und
Trockner von Miele, was sonst. Im Schlafzimmer ein ordentlich gemachtes Bett, fast wie im Hotel. Grünpflanzen in jedem Raum. Grünpflanzen mit allen erdenklichen Blattformen, groß, klein, schmal,
breit, rund, länglich, flirrend zart und sukkulentendick. Auch sie wirkten wie aus einem Einrichtungskatalog, steckten in dekorativen Übertöpfen, und augenscheinlich gab er sich große Mühe damit.
Allerdings nur auf den ersten Blick. Sie interessierte sich nicht sonderlich für Zimmerpflanzen und hatte keine Ahnung von deren Pflege, aber bei näherem Hinsehen bemerkte sie, dass ihnen etwas
fehlte und keins der Exemplare einen wirklich gesunden Eindruck machte. Sie kümmerten eher traurig dahin. Hier sollte unbedingt etwas am Leben erhalten werden, doch es lief nicht optimal.
Draußen war alles freundlich. Lebensbejahend. Das Licht, der Himmel, die wenigen Wolken. Die vom Sonnenlicht sanft angestrahlten Fassaden der Häuser. Fast wie im Urlaub. Sommer war keine
unheimliche Jahreszeit. Auch die Wohnung war nicht unheimlich, erst recht nicht bei diesem Licht. Sie war hell. Groß. Gut aufgeteilt. Abgesehen von der roten Einbauküche, die nicht ihrem
Geschmack entsprach, hätte sie viel für eine solche Wohnung gegeben. Sie hätte sogar versucht, das kränkelnde Grünzeug wieder aufzupäppeln, wenn’s sein musste. Heute wusste man, dass Pflanzen
eine Menge spürten, sogar miteinander kommunizierten. Vielleicht brauchten sie ja Ansprache. Oder schlicht good vibrations. Von good vibrations konnte hier keine Rede sein. Nicht vorhanden.
Etwas, irgendein Etwas, lag wie ein Film auf allem, auf den abgeschliffenen geölten Dielen, auf den sorgsam ausgewählten Möbeln, den mehr als zwölf Weingläsern im roten Küchenschrank, dem
chromglänzenden Kaffeeautomaten. Die Wohnung verströmte Trostlosigkeit. Interessant, dass das nicht nur bei stinkigen kleinen dunklen Löchern mit Pressspan und Fliesen- und Holzimitat und
schimmeligen Bädern und undichten Fenstern der Fall war, sondern auch hier, mit all dieser Großzügigkeit, Sauberkeit und Schönheit. Von einem Moment auf den anderen schmeckte der Wein nicht mehr.
Kein Wunder, dass es den Topfpflanzen schlecht ging. Sie spürten das auch.
In der Küche wusch sie Weinglas und Messer sorgsam ab und beförderte beides zurück an seinen Platz. Die Dokumente hatte sie schon vorher auf dem Weg hierhin tief in einem öffentlichen Abfalleimer
versenkt. Ein Typ hatte sie dabei misstrauisch beobachtet, und sie hatte zuerst nicht verstanden, wieso, bis ihr aufging, dass er auf der Suche nach Leergut war und sie als Konkurrenz
betrachtete, weil ihr halber Arm im Abfalleimer steckte. Sie ertastete auch tatsächlich, neben einer undefinierbaren Tüte mit weichem Inhalt, uuuhhh, war das eine Hundekacketüte?, eine
Pfandflasche aus Plastik, die sie herauszog und ihm dann reichte.
Aus dem Vorratsschrank nahm sie ein kleines Glas Vongole. Danach inspizierte sie das Weinregal und entschied sich für einen Roten. Sie steckte beides in ihren Rucksack. Ein Mitbringsel. Gute
Idee. Schließlich noch eine versiegelte Flasche Olivenöl, die nicht so aussah wie im Supermarkt gekauft. Irgendwas mit Toskana, las sie. Dass es hier nur hochwertiges Olivenöl gab, stand außer
Frage. Es war ohnehin seine Reserve und tat ihm nicht weh. Abgesehen davon war ihr völlig egal, ob es ihm wehtat. Immer genug Vorräte, alles doppelt und dreifach – seine ausgeprägte Hamsternatur
war nicht zu übersehen. Gutes Olivenöl war schweineteuer. Davon konnte man zweimal zum Imbiss gehen. Und zusätzlich noch Bier kaufen.
Weshalb hatte sie sich überhaupt die Mühe gemacht herzukommen? Sie wollte unbedingt die Wohnung sehen, deshalb. Sie für einen Moment genießen, sich kurz vorstellen, es wäre ihre. Aber sie merkte
schnell, dass es kein ernsthafter Wunsch war. Zu viele bad vibes. Höchste Zeit, den Ort zu verlassen. Wenn man sie nicht schon vorher hatte, bekam man in dieser Wohnung nach einer Weile schlechte
Laune. Sie musste hier raus. Besser, sie beeilte sich.
Als sie unten aus dem Haus trat und in Richtung U-Bahn ging, kam sehr langsam ein Streifenwagen angefahren, gefolgt von einem dunklen Mittelklasse-Pkw. Darauf sollte sie nicht reagieren, es gar
nicht zur Kenntnis nehmen. Doch das gelang ihr nicht. So unauffällig wie möglich drehte sie sich um, ohne dabei ihr schnelles, aber nicht zu schnelles Tempo zu drosseln. Beide Wagen hielten
direkt vor der Tür, so viel bekam sie mit. Mitten auf der Straße in zweiter Reihe. Das konnten sich auch nur Bullen erlauben. Bevor sie hätte sehen können, wer ausstieg, und wie viele, und ob ihr
Ziel wirklich genau dieses Haus war, wandte sie sich wieder ab und ging zügig weiter. Die Flaschen in ihrem Rucksack klirrten bei jedem Schritt leicht gegeneinander. Ein gutes Geräusch. Sie
blickte nicht mehr zurück und freute sich über das Glas Vongole, den Rotwein und das teure Olivenöl.
2
Anfang Mai
Es war noch nicht Sommer, die Dreißig-Grad-Marke aber schon erreicht. Alles deutete auf endlose heiße Monate bis weit in den September hin, wie auch in den vergangenen Jahren. Isabel Keppler
lebte im Keller und sah dem gelassen entgegen. Wenigstens ein Vorteil der Souterrainwohnung. Um eine solche Wohnung würden sich bald alle reißen.
Die Zwanzigtausend hatte sie natürlich längst ausgegeben. Zwanzigtausend, das hielt ja nicht ewig. Und das Leben kostete. Selbst in einer schäbigen Souterrainwohnung, ohne Urlaube dreimal im
Jahr, ständig neue Klamotten und ohne teure Hobbys kostete das Leben. Isabel hatte sich von dem Geld ein paar Möbel geleistet, weil ihr die Sperrmülleinrichtung, in der sie hauste, zunehmend auf
die Nerven gegangen war, erstens, und weil sie fand, zweitens, dass man mit Anfang vierzig langsam erwachsen war und folglich erwachsene Möbel brauchte. Außerdem hatte sie einen ihrer beiden Jobs
verloren. So war es nicht nur ihr, sondern vielen ergangen. Die Zwanzigtausend waren nach und nach zusammengeschrumpft, bis nur noch ein kümmerlicher Rest übrig war.
Seit damals hatte Isabel nicht mehr versucht, ihn anzuzapfen, obwohl es sich anbot und sie außerdem eine entschiedene Befürworterin von Umverteilung war. Ein paar tausend mehr oder weniger wären
ihm gar nicht aufgefallen. Das Ganze lag nun fast zwei Jahre zurück, und seither war so viel passiert. Oder auch nicht passiert, je nachdem, wie man es betrachtete. Der Verlust des einen Jobs war
zu verschmerzen, da Isabel überraschend einen anderen gefunden hatte, zwar nur befristet, aber immerhin. Im Übrigen war sie erleichtert, die früheren Kollegen nicht mehr sehen zu müssen.
Natürlich hatte sie darüber nachgedacht, noch mehr aus ihm herauszupressen. Er hatte genug Geld, er prahlte damit, und nachdem Isabels anfängliche Freude einer gewissen Selbstverständlichkeit
gewichen war – Das steht mir zu –, waren ihr zwanzigtausend plötzlich recht bescheiden vorgekommen. Sie hatte mehr verdient. Eindeutig. Aber das Leben ging weiter, sogar jetzt, das Leben ging
immer irgendwie weiter, und schließlich vergaß sie die Angelegenheit. Oder besser gesagt, Isabel hätte sie vergessen, wären nicht seine Nachrichten gewesen, die sie in unregelmäßigen Abständen
erreichten.
Er hatte das Ganze nämlich offenbar nicht vergessen. Er rief sich ihr ins Gedächtnis, nicht umgekehrt. Dabei achtete er darauf, weder zu telefonieren noch elektronische Mitteilungen zu versenden.
Stattdessen verwendete er Papier und einen dicken schwarzen Filzstift. Große Buchstaben. Jeder Buchstabe wie ein schreiendes Ausrufezeichen. Wahrscheinlich trug er sogar Handschuhe, wenn er diese
Botschaften verfasste, und kam sich dabei besonders clever vor. Er hielt sich sowieso für oberschlau. Für einen Macher, der alles im Griff und unter Kontrolle hatte. Isabel fragte sich, wieso er
die Mühe auf sich nahm, quer durch die Stadt von Pankow zu ihr nach Kreuzberg zu fahren, und ob er nichts Besseres zu tun hatte. Er verschickte seine Nachrichten nicht mit der Post, sondern
stellte sie persönlich zu und drapierte sie entweder an einem ihrer Fenster oder der Wohnungstür. Sie hatte seit damals keine weiteren Forderungen mehr gestellt, er hätte sich also keine Sorgen
machen müssen. Doch er machte sich welche. Seine Angst musste groß sein. Ob er befürchtete, dass sie bei ihm zu Hause anrief, wenn seine Frau an den Apparat ging? Ob er jeden Tag zitterte? Wenn
dem so war, konnte Isabel ihm diesen Gefallen eigentlich auch tun und ihn erlösen. Noch einmal zwanzigtausend wären angemessen, fand sie. Oder sollte sie diesmal höhergehen?
Sie könnte ihm eine E-Mail schicken. Nein, besser nicht, das wurde ja sonst wo und auf ewig gespeichert und wäre zurückzuverfolgen. Also ein Anruf. Hallo, wir haben ja lange nichts mehr
voneinander gehört, wie ist es Ihnen denn mit Corona ergangen, alles in Ordnung mit Ihrer Frau und Ihren beiden entzückenden Töchtern? Alle wohlauf? Herr Baumann, die Sache ist die, einer meiner
beiden Jobs läuft diesen Herbst aus, und dann brauche ich Geld. Sie verstehen schon.
Isabels Lust, mit Matthias Baumann zu reden, hielt sich allerdings in Grenzen. Sie hatte seit fast zwei Jahren kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Sie war auch nicht zur Polizei gegangen, obwohl
sie es sich eine Weile fest vorgenommen hatte. Doch den Weg dorthin hatte sie sich selbst verbaut. Wie hätte sie denen die Zwanzigtausend erklären sollen? Wie dumm, wie ausgesprochen dumm, dass
sie sich das Geld aufs Konto hatte überweisen lassen, statt gutes, altmodisches Bargeld zu verlangen. Beim nächsten Mal würde sie es anders machen.
Es war noch nicht Sommer, die Dreißig-Grad-Marke aber schon erreicht. In Berlin und Brandenburg hatte es gefühlt seit Jahren nicht mehr geregnet. [...]