Harald Körke: Austernbucht

Leseprobe


“Er wohnt in der Villa vom alten Oberst”, sagte Gudrun, noch bevor sie guten Morgen sagen konnte. Sie klang aufgeregt, weil sie es gerade erst erfahren hatte. “Und der Milchkaffee-Engel ist auch bei ihm. Ob sie andersrum sind?”

 

Am anderen Ende der Leitung stand Lilly neben ihrem Telefon. Sie spielte mit den Wachspropfen, die neben dem Telefon lagen, und mit denen sie sich eine stille Nacht verschaffte. Sie schob sie mit der Brille auf dem Telefontisch hin und her. Sie war froh, dass sie sie schon vorher aus den Ohren gefummelt hatte, vorher, als sie versucht hatte, Wilhelmine anzurufen. Mit Wilhelmine sprach sie lieber als mit Gudrun, denn Wilhelmine war Holländerin, während Gudrun aus Berlin nach Follada gekommen war. Lilly kam aus Wien, und sie meinte, dass das alles erklärte. Berliner und Wiener, das hatte noch nie so richtig zusammengepasst.

 

Sie angelte mit dem Fuß nach einem ihrer Hausschuhe, der unter den Telefontisch gerutscht war, und sie freute dabei am Anblick ihrer Füße, die zart, und weil sie die Brille nicht trug, wie weichgezeichnet zu ihr hochblickten. “Sie sind hübsch”, murmelte sie.

 

“Nur der Milchkaffee-Engel ist hübsch”, sagte Gudrun sehr entschieden. “Der andere ist mir zu alt. Und hübsch war er nie. Er hat eine zu lange Nase. Zu lang und krumm. Vielleicht geht er deshalb mit dem süßen Bengel.”

 

“Meine Füße”, korrigierte Lilly. “Meine Füße sind hübsch. Bis gestern hat er doch bei Petronio gewohnt. Seit wann …?”

 

“Seit heute früh”, sagte Gudrun eifrig. Sie legte Wert darauf, bei Lilly Ansehen zu genießen, denn Lilly war schon lange auf der Insel. Lilly war reich, reicher jedenfalls als Gudrun, die nur einmal verheiratet gewesen war, und das zweite Mal mit einem Architekten Pech gehabt hatte, der nach fast einem Jahrzehnt des Zusammenlebens einer sehr viel jüngeren Rumänin den Vorzug vor ihr gegeben hatte. Sie war ohne Dank und Lohn entlassen worden, und das tat ihrem Status auf Follada nicht besonders gut. Auf Dank, so fand man, konnte eine Frau verzichten, auf Lohn nicht.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke