Jeden Tag denke ich an den Tod. Denn überall, wo ich bin (ich reise selten in Länder, deren Landessprache ich nicht kenne), kaufe ich mir eine lokale Tageszeitung, um zu erfahren, was die
Menschen in meiner aktuellen Umgebung beschäftigt. Und jeden Tag lese ich die Todesanzeigen. In England und den USA die Obituaries, kleine oder große Nachrufe auf Menschen aus fast allen Ecken
der Gesellschaft. Für mich sind sie ein Spiegel der grandiosen Vielfalt der Individuen, ihrer Lebensentwürfe und Schicksale. Aber sie vermitteln mir auch ein Gefühl von Ewigkeit: der unendlich
wiederkehrende Rhythmus menschlicher Existenz.
Die New York Times hat diese Tradition des Gedenkens an die „ganz normalen“ Toten in der Corona-Zeit aufgegriffen, als sie tausend Namen von Personen veröffentlichte, die der Pandemie in allen
Teilen der USA zum Opfer gefallen waren, jeweils mit kurzen Sätzen über ihre besonderen Eigenschaften, Talente, Vorlieben. Diese Miniaturen brachten den enormen Verlust zur Sprache, den die
Pandemie-Tode nicht nur für die Nahestehenden bedeuteten, sondern für die Struktur der gesamten Gesellschaft. Sie waren viel mehr als bloße Zahlen ein emotionaler Anlass, der kollektive Trauer
erst möglich machte.
Manche Nachrufe heften sich an mein Gedächtnis. So las ich einmal in der „Bude and Stratton Post“, einer kleinen Lokalzeitung in Cornwall, England, über eine Verstorbene, die eine begeisterte
Fußball-Mutter gewesen war und nach den Spielen stets das Waschen der Mannschaftstrikots übernahm. Zur Beschreibung der „lustig flatternden Fußballerhemden und -shorts auf der Wäscheleine in
ihrem Garten“ stellte ich mir eine Frau vor, die zufrieden auf ihr Tagwerk blickt, voller Humor, Tatkraft und Lebensfreude.
Oder jenes Trauerporträt in der „Times Picayune“ von New Orleans über eine Frau, deren Passion es war, herrenlose Hunde aufzunehmen. Da stand, dass „ihre Kinder manchmal auf die Hunde
eifersüchtig waren“. Wirklich erfrischend, solch liebevoll-ironische Ehrlichkeit in Gegenwart des Todes.
Oft bedauere ich, die Abgeschiedenen nicht zu Lebzeiten kennengelernt zu haben. Etwa die betagte Grande Dame des „House of Blues“, ebenfalls in New Orleans (in derselben Zeitung), die mit größter
Freude jeden Sonntag für die Gospel-Messe in ihrem Musik-Etablissement den üppigen Blumenschmuck besorgte. Viele Rosen schnitt sie auf ihrem Dachgarten, wo sie abends dem Sundowner zusprach. Ja,
der Blues hat auch eine zarte Saite.
In Deutschland ist diese Tradition des sehr persönlichen öffentlichen Totengedenkens bei nicht irgendwie prominenten Menschen leider nicht so entwickelt, was vielleicht mit einer stärkeren
Tabuisierung des Todes überhaupt zusammenhängt. In meiner Kindheit – es war Nachkriegszeit – wurde über gerade verstorbene Verwandte nur im Flüsterton geredet, auf Beerdigungen lastete eine
bleierne Sprachlosigkeit, und der erstickte Schluchzer war der höchste Ausdruck der Anteilnahme. Die Toten wurden zu eigenschaftslosen armen Seelen. So als dürfe man Gottes Urteil nicht
vorgreifen, dem die Bewertung zusteht: Ab in die Hölle, ins Fegefeuer oder in den Himmel.
Das hat sich inzwischen etwas geändert, und das finde ich gut. Mehr und mehr enthalten Todesanzeigen außer den altbekannten Sinn- und Trostsprüchen auch Fotos und kleine Würdigungen der
Verstorbenen.
Mein lesender Blick gleitet vom Geburts- zum Todesdatum, vom Geburts- zum Begräbnisort. Wie weit ist jemand hinausgekommen über den Horizont des Heimatorts? Welche Kriegskindheit, welches
Flüchtlingsschicksal mag sich hinter einem Geburtsort in der Batschka, in Schlesien oder Mähren verbergen? Welche Migrationsgeschichte hinter einem griechischen, italienischen oder türkischen
Namen? Berufsangaben zeugen manchmal von handwerklichem Stolz, manchmal von Wohlstand. In Rottenburg, einer katholischen Bischofsstadt, wurde kürzlich das Hinscheiden einer „Paramentenkünstlerin“
angezeigt. Eine fast ausgestorbene Profession: das Besticken von Priestergewändern und Altartüchern mit eucharistischen und biblischen Symbolen. Hat sie als stumme Dienerin ihrer Kirche
vielleicht eine eigene ästhetische Handschrift hinterlassen? Hätte sie gern einmal ein Gewand für eine Priesterin bestickt? In einer anderen Anzeige wurde ein Verstorbener als
„Realitäten-Besitzer“ ausgewiesen. Eine schöne Vorstellung, dass jemand über nicht nur eine, sondern mehrere Wirklichkeiten verfügt – bis mir einfiel, dass in diesem Fall wahrscheinlich
Immobilien gemeint waren.
Manchmal fasziniert mich die Reichhaltigkeit der familiären Rollen, die ein Mensch im Leben annehmen kann: Ehemann/frau, Vater/Mutter, Schwiegervater/mutter, Opa/Oma, Uropa/oma, Bruder/Schwester,
Schwager/Schwägerin, im Schwäbischen manchmal auch noch der oder die Dote (Patenonkel/tante). Wie lebenslustig oder lebenskünstlerisch eine/r war, erschließt sich aus den Nebenanzeigen der
Vereine, Freundeskreise, Wander- oder Skatgruppen. Mit Hingabe studiere ich die Stammesnamen in den Kondolenzlisten für Walter „Walle“ Soundso und andere: Lila und Mickey, Zorbas, Tiffy, Pete,
Lari und Django, Olli und Bruzzel bilden die verschworene Mitte, aus der jemand gerissen wurde. Als kürzlich ein „Prinz von …“ starb, erschien in der „Süddeutschen Zeitung“ eine große Anzeige mit
bestimmt 25 klangvollen Namen und Titeln, englische, orientalische, lateinamerikanische darunter. Hier trauerten nicht etwa die globalen Geschäftspartner, sondern „deine Zigarrenfreunde“.
Auf Friedhöfen schlendere ich durch die Reihen der Grabsteine, suche nach Lebenslinien. Es gefällt mir, eine Über-Hundertjährige zu entdecken, und ich seufze ein „Ach!“ über die Mutter, die zwei
ihrer Kinder überlebte, zwei Mal den schrecklichsten Schmerz aushalten musste. Beim Lesen der Nachrufe, beim Entziffern der Grabinschriften befällt mich ein Gefühl der Trauer um wildfremde
Menschen, manchmal auch Verzweiflung über die verdammte Ungerechtigkeit des Schicksals. Aber sie stärken auch mein Vertrauen in eine Gesellschaft, die ihre Beziehungen auf Sinnhaftigkeit und
Liebe gründet – oder zumindest wünscht, dass es so wäre. Die Art, wie man der Toten gedenkt, vermittelt mir eine Geborgenheit im Leben.
Es ist also nicht nur eine hobbysoziologische Neugier, die mich zu diesen Studien treibt, es ist auch ein Bedürfnis, emotional Anteil zu nehmen, und: dem Tod ins Auge zu blicken, ihn näher
kennenzulernen. Zwar weiß ich noch immer nicht, wie er aussieht, aber diese Augen sagen mir, dass ich ihn nicht fürchten muss, wenn es so weit ist.
Den anderen schon. Den gewaltsamen, brutalen, den mörderischen und kalten Tod des Entsetzens, der täglichen Nachrichten oder auch des Fernsehkrimis kann ich kaum ertragen. Mir krampfen sich
selbst beim Anblick offensichtlich geschminkter Leichen die Eingeweide zusammen, und „Tatort“-Krimis empfinde ich beinahe als psychische Folter. Ich schaue sie mir nicht an, auch wenn ich weiß,
dass es „nur“ Mord- und Todesfantasien sind. Die Bilder trotzdem zu nah an der möglichen Wirklichkeit. Manchmal frage ich mich, was bei mir anders ist als bei den Millionen, die diese Krimi- und
Gewalt-Schwemme, die täglich über die Bildschirme schwappt, konsumieren und goutieren. Mir genügt es zu wissen, dass es den scheußlichen und entstellenden, den un-menschlichen Tod gibt, aber ich
will ihm nicht auch noch begegnen.
Der böse, hässliche, raffgierige Tod, der nicht nur die Menschen, sondern zugleich ihre Würde raubt, der sprachlos macht und verzweifelt, der Tod der Kriege und der gezielten Massenvernichtung,
der Gewaltverbrechen, Unfälle, Seuchen und Katastrophen, ihn würde ich gern verdrängen.
Es schaudert mich auch vor dem „unnötigen“ Tod. Der zwar von niemandem verschuldet ist, aber in seiner Plötzlichkeit fassungslos macht. Das Aneurysma, von dem niemand etwas wusste; ein dummer
Sturz mit dem Kopf auf eine harte Kante; die Maverick-Welle beim Surfen; der Steinschlag bei der eigentlich ungefährlichen Bergwanderung. Das unwahrscheinliche Aufeinandertreffen, unerklärbar,
ohne Sinn.
[...]
S. 17 bis S. 20 Mitte des Beitrags von S. 17 bis 24 © Konkursbuch Verlag
Dagmar Fedderke
Der erste Tote, an den ich mich erinnere, war mein Großvater. Mit seiner Frau, meiner Oma, die ihn überlebte, hatte er zusammen in unserem, genauer ihrem Haus gelebt. Er lag im offenen Sarg vor
der Etagentür zur Erdgeschosswohnung im Eingangsbereich. Meine Familie stieg geschlossen die Treppen hinab. Wir konnten den Sarg schon von oben sehen, kamen ihm immer näher, und die Gestalt des
Toten erschien immer deutlicher.
Opa hatte schon im Leben hübsch ausgesehen. Hübsch und Großvater passen nicht zusammen? Doch. Er war zum Schluss wieder ein unschuldiges Wesen geworden. Er hat nie etwas Kritisches gesagt. Er
ging langsam seiner Wege, war nie unfreundlich oder laut. Er saß am Küchentisch, aber er las Oma nichts mehr vor. Ich brauchte schon seit Langem keine Bücher mehr aus der Leihbibliothek her und
zurück zu schleppen, immer dicke Bücher. Romane, sagte meine Mutter. Früher hatte er mir immer ein Geldstück für jede Schulnote 2 gegeben, sei es für einen Aufsatz, ein Diktat oder eine
Erdkundearbeit. Da, sagte er dann, und ich machte meinen Knicks zu Danke.
Für mich war er nicht so langweilig, wie er für die anderen galt. Bleibe im Lande und nähre dich redlich, das war eine seiner Maximen gewesen: Gehe niemals so weit weg, dass du nicht zu Fuß nach
Hause kommen kannst … Und mein Vater, sein einziger Sohn, musste zur Marine gehen und mit dem großen Schiff Kreuzer So-und-so über den Äquator nach Südamerika, um Kap Horn herum und durch den
Kanal zurück nach Panama fahren … Was sollte er von so einem Sohn halten?
Zum Schluss sagte er gar nichts mehr. Aber er kam mit Oma jeden Abend zum Essen und dem anschließenden Fernsehen. Ich kann mich gut an eine Samstags-Show von Lou van Burg erinnern, in der eine
Opernsängerin auftrat. Die Kamera hielt auf die beleibte Dame, zeigte erst das Gesicht mit dem singenden Mund und fuhr dann hinab auf das mit jedem Atemholen bebende Dekolleté. Da stand Opa aus
seinem Sessel auf und drängelte sich dicht neben und hinter den Fernseher und versuchte, der Dame von oben herab genauer in den Ausschnitt zu schauen … Karl, mahnte meine Großmutter energisch,
sie war ernsthaft empört, während wir alle unsere helle Freude hatten.
Jetzt lag er da im braunen, geschnitzten Holzsarg und war noch viel mehr als hübsch: Im Tode war er wunderschön. Er trug einen schwarzen Anzug, der noch ganz lebendig aussah, kein bisschen
verstaubt. Das war schon sein Hochzeitsanzug, sagte seine Frau. Der passt ihm noch wie damals … Das blütenweiße Hemd schloss sich um den Hals, der jetzt hier völlig faltenlos aus dem steifen
Kragen herausschaute. Sein Gesicht hatte einen wächsernen Teint, ebenmäßig in Farbe und Form. Der schlanke, gerade gebaute Körper wirkte im Liegen noch größer als sonst im Stehen. Fast hätte ich
geschrieben: … als in Wirklichkeit … Er lag ja wirklich da in seinem Sarg, neben mir, auf meiner Höhe, und doch kam er mir unwirklich vor. Als wäre er geschminkt, künstlich, eben aus Wachs. Aber
ich spürte keine Fremdheit zu ihm. Diese Präsenz hatte ganz und gar nichts Erschreckendes. Er sah überhaupt nicht nach einer Leiche, geschweige denn einem Kadaver aus. Er war unverletzter denn
je. Sein Kopf wirkte wie ein Haupt und nicht wie ein Totenschädel. Am liebsten wäre es mir gewesen, der Sarg hätte Rollen gehabt. Dann hätte ich den Großvater von der Haustür weggerollt, um
seinen Abtransport zu verhindern. Ich wäre selig gewesen, wenn er so, wie er jetzt war, noch etwas bei uns hätte bleiben können. Deshalb setzte mein Elend in dem Augenblick ein, als der Sarg
geschlossen wurde. Für immer. Am Grab wurde er nicht etwa wieder aufgemacht und Opa zum Aussteigen aufgefordert. Nein, man ließ den Schnitzerei-verzierten Holzsarg in das tiefe bereits
ausgegrabene Loch hinunter. Vier Männer hielten je ein dickes Tau in den Händen, und der Holzkasten sank gleichmäßig, immer in sauber waagerechter Balance in die makellos rechtwinklig ausgehobene
Grube hinab. Unten angekommen, zogen die Männer die Seile zurück, sie legten sie in Kreisen aufgerollt neben dem Grab auf die Erdoberfläche.
Jetzt kam das Erschreckende: Nach den letzten Worten des Pfarrers kam Bewegung in die verstummten, beim Zuhören erstarrten Menschen. Alle Männer, mein Vater voran, warfen ganze Klumpen von Erde
mit Hilfe eines Spatens unordentlich auf den meiner Einschätzung nach kostbaren Sarg. Das gab ein polterndes Geräusch dort unten im Dunkeln, und das Grobe bemächtigte sich der Wahrnehmung. Es
war, als ob man eine Hoffnung begraben würde. Was die Menschen gelernt hatten, die schönen Schnitzereien am Sarg, der dunkle Anzug des Großvaters, das faltenlos gebügelte, schneeweiß gewaschene
Hemd, Opa mit allem, was er im Leben gelernt hatte, was ihn unterschieden hatte von den anderen und das, was übereinstimmte, das, was er geworden war … alles wurde verschüttet. Achtlos. Das war
der Schock: dass von all den Mühen, den schweren Anstrengungen, den Tränen bei Misslungenem sowie den herrlichen Siegesmomenten, in denen, wie wir wissen, ein Herz lachen kann … nichts bleibt,
nichts: Alles verschwindet. Unter der grob wiederhergestellten Ungeformtheit der Unordnung als Voraussetzung eines jeden Anfangs.
Das ist für ein Kind schwer zu verstehen. Soll es denn wirklich lernen, dass sich gar keine Mühe lohnt?
Ich schreibe diesen Text ja nicht als Kind. Der Schrecken über die groben Erdklumpen auf Opas schönem Kopf, dem schönen geputzten Holz des Sarges: Da wird die Erde zu Dreck.
Meine Erinnerung hat nicht den Schrecken der gnadenlosen Vergänglichkeit als Wichtigstes gespeichert, sondern die Überraschung darüber, dass der Tod schönmacht. Im Übrigen, das mit der Erde auf
den Kopf haben ja die überlebenden Menschen gemacht. Sie hätten auch etwas anderes machen können. Aber Opas zauberhafte Wirklichkeit konnte kein Mensch, nichts aus dem Leben, nein, nur der Tod
hinkriegen. Das war wohl schon für das Kind erfahrbar: Es war so wichtig, dass es sich eingegraben hat und Jahrzehnte lang nicht verschüttet werden konnte
S. 115 bis 117 © Konkursbuch Verlag
Im ernsten Beinhaus wars, wo ich beschaute,
Wie Schädel Schädeln angeordnet paßten;
Die alte Zeit gedacht ich, die ergraute.
Sie stehn in Reihn geklemmt, die sonst sich haßten,
Und derbe Knochen, die sich tödlich schlugen
Sie liegen kreuzweis, zahm allhier zu rasten.
J.W. Goethe
Spaß muß bekanntlich dran sein an der Beerdigung, sonst geht wieder keiner mit. Und im Beinhaus muss Ordnung herrschen, sonst kommt ja alles durcheinander. Stumm steht man dort vor Knochenköpfen
und Totenbeinen und bietet Maulaffen feil, freut sich aber an der gefälligen Ordnung. Adalbert Stifter macht einen Gang durch die Wiener Katakomben: Endlich kamen die Bewohner dieser stillen,
finstern Stadt, nämlich: wie Holz aufgeschichtet, viele Klafter lang und hoch – es überläuft einen ein seltsamer Schauer –, was werden alle diese Werkzeuge, als sie noch ein denkender Geist
belebte, ein liebendes oder hassendes Gemüt stachelte, Schönes, Herrliches oder Entsetzliches getan haben?, und nun liegen sie hier, starr, übereinandergeschichtet, eine wertlose,
schauererregende Masse. – In gewissen Abständen, gleichsam symmetrisch geordnet, stecken zwischen ihnen die Köpfe, aber auch auf der Erde liegen bereits Trümmer herum, und der weiche Tritt lässt
merken, dass man auf Moder geht. Ein Führer bedeutete uns, dass man die vielfach zerstreuten Knochen der Katakomben und die einst auf dem Stephansfriedhof Ausgegrabenen hier der Ordnung wegen
aufgeschichtet habe.
Guy de Maupassant sieht sich in den Kapuzinergräbern von Palermo um: Jetzt sind wir bei den Frauen, die fast noch bizarrer wirken als die Männer, denn man hat sie mit viel Koketterie
herausgeputzt. In Spitzenhäubchen, mit Bändern festgehalten, sind die Köpfe wie eingequetscht und starren einen an aus diesem schneeigen Weiß – schwarze, verweste Gesichter, zerfressen von der
makabren Arbeit des Erdreichs. Und hier die jungen Mädchen, die schrecklichen jungen Mädchen in ihren weißen Gewändern – mit metallenen Kränzen um die Stirn zum Zeichen ihrer Unschuld. Jetzt aber
kommen wir in ein Gewölbe mit lauter kleinen Glassärgen – das sind die Kinder. Die kaum erhärteten Knochen haben nicht standgehalten. Und so weiß man nicht recht, was man eigentlich da sieht, so
entstellt, ja förmlich zermalmt und schrecklich sehen sie aus, die armen Kleinen. Wir durchqueren ein noch dunkleres, niedrigeres Gewölbe, das den Armen zugedacht zu sein scheint. In einem
finsteren Winkel hängen ihrer zwanzig zusammengebündelt unter einer Luke, die von Zeit zu Zeit einen Luftschwall von draußen über sie hereinbläst. Hier nun sind wir in der Abteilung für Priester.
Eine stattliche Ehrengalerie! Auf den ersten Blick scheinen sie in ihren geheiligten schwarzen, lila und roten Prunkgewändern noch grässlicher zu sein als die anderen. Wenn man aber so einen nach
dem anderen betrachtet, befällt einen ein etwas krampfhaft nervöses, aber unwiderstehliches Lachen angesichts ihrer bizarren und unheimlich-komischen Attitüden.
Erhart Kästner schaut ins Beinhaus des Klosters Grigoriu und erzählt, der Keller habe die Ernte des Klosters geborgen und seine Geschichte, „denn hier war seine Geschichte, hier mehr als sie in
seinen Urkunden war. Der Raum war geweißt und die Knochen geschichtet, als wenn sie ein Vorrat seien, auf den man irgendwann zurückgreifen werde. Rechts waren die Schädel aufeinandergebeugt,
links Schenkelknochen und Arme wie Holz für den Winter.“
S. 157 bis 159 © Konkursbuch Verlag