Andrea Karimé: Fatina

Leseprobe


Die Postkarte

Mond,

 

ich nehme dich mit,

 

damit meine Großmutter dich sieht.

 

Hörst du mich?

 

Mona Karim

 

*

 

Sicher ist Mara-Marie nur in ihrem Sprachhaus. Auf den Tisch ihrer Großmutter Elisabeth lässt sie Sätze vom Himmel herabfallen und es wachsen Blütenwiesen aus Worten. Dort findet sie Ruhe und in der Nacht Mondlicht zwischen den Buchstaben. Doch auch graues Alltagsgebein Sprache. Nur hier wird es still. Still wie die Augen von Großmutter Raissa.

 

*

 

Der Tag, an dem ich die Postkarte bekam, hatte einen bitteren Geschmack. Ich beendete eine Liebe und begrub gerade meinen Traum, in den Libanon reisen zu können. Seit einigen Jahren hatte ich gepackt. Doch ich war nie geflogen. Weil eine Bombe fiel, weil ein Terrorist einen Selbstmordanschlag verübte, und in diesem Jahr die brennende Kirche.

 

Ich muss den Koffer auf den Speicher bringen, dachte ich und holte meine Post. Der Koffer war unfreundlich, warum sollte ich ihn behalten? Er war teuer gewesen, zugegeben. Nur weil ich einen Koffer hatte haben wollen, der so aussieht wie einer von Paul Bowles. Überseekoffer. Für Reisen in den Orient. Goldene Scharniere wie Zähne vor einem grau karierten Rachen.

 

Als ich auf den Kalender schaute, merkte ich, dass es Frühling geworden sein sollte. Wie oft muss ein Kalender sich irren, um abgesetzt zu werden? Freute sich der Koffer über meine Kapitulation? Ja, ich hatte wieder einmal Vorfreude durch einen matschigen, faulfarbenen Stadtherbst getragen und durch einen Winter, dessen Eispranke dem Früh-ling noch immer nachstellte. Und nun?

 

Ich bin Fatina El Raschida. Ich bin deine Kusine.

 

Mein Vater hatte die Gewohnheit, meine Adresse an seine Schüler weiterzugeben, als Anlaufadresse in Deutschland. Selbst meldete er sich nie. Auf diese Weise lernte ich allerhand Verwandte oder Scheinverwandte kennen, mit denen mich allerdings nicht mehr verband als die Liebe zu dem Ort, in dem sie aufgewachsen waren.

 

In meinem Herzen wurde es dennoch laut, wie in einer von starkem Sturm durchwehten Rumpelkammer. Ich hielt inne, um den Geräuschen auf den Grund zu gehen.

 

El Rashidi war der Name eines Terroristen. El Rashida war der Name der Kusine. Und ich bin Mara-Marie Rashida.

 

Eigentlich heiße ich auch El Raschida, doch haben die fast dreißig deutschen Jahre meines Vaters den Artikel von unserem Namen langsam abgeschmirgelt.

 

Ein libanesisch-deutscher Mann wurde verhaftet, weil er den Namen eines mutmaßlichen Terroristen trägt. Aber das war nicht alles. Der Name Fatina erinnerte mich dunkel an etwas, doch es fiel mir nicht ein. Ich musste die Wohnung verlassen. Ich schrieb meiner Familie einen Abschiedsbrief, der mit Fetzen aus meinem Notizbuch gesprenkelt war.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke