Karen-Susan Fessel: Sirib, meine Königin

Leseprobe


Ihr Haar flatterte im Wind, und ihre Schultern heben und senken sich rhythmisch im Galopp des Pferdes. Der Wind zerrt an meiner Joppe, greift mit gierigen Fingern nach mir und droht böse. Ich kämpfe gegen ihn an. Die Beine meiner alten Stute sind viel kürzer als die von Aktila, dem stolzen Wallach, aber ich gebe nicht auf. Ihr Lachen klingt wie der Ton einer weit entfernten Kirchturmglocke zu mir herüber, und mein Herz schlägt schneller.

 

Sie setzt über einen kleinen, verrotteten Weidezaun und lenkt den Wallach nach rechts. In einem weitgezogenen Bogen läuft er an dem kleinen Hain vorbei, traumgleich, anmutig, und ihre hohe Gestalt auf seinem Rücken leuchtet im weißen Licht der Wolken wie ein silbernes Schild.

 

Ich strenge mich an, sie einzuholen. Der Sturm wird heftiger, und die wilden Böen verschlagen mir den Atem. Sie legt den Kopf zurück und lacht, und eine Strähne goldenen Haares fliegt über ihr Gesicht und streichelt ihre Lippen. Etwas zerspringt in mir.

 

“Ich bin verliebt in dich!” schreie ich in den Wind. Ich höre meine Worte kaum, so heftig umtost mich der Sturm. Sirib dreht den Kopf zu mir, und ihre schrägliegenden, glühenden Augen durchbohren mich. Ich senke den Blick nicht. Sie drosselt den Wallach und bringt ihn zum Stehen. Meine Stute bäumt sich angstvoll unter mir auf, aber ich lasse mich nicht beirren. Stolz halte ich auf Sirib zu, gegen den Wind, der in immer stärkeren Böen in meine Richtung bläst, und sie sitzt hochaufgerichtet da und sieht mir entgegen.

 

Die Hosen schlottern um meine Knie, und das Band um meine Hüften hat sich gelöst. Ich weiß, welch armseligen Eindruck ich mache, in meinen einfachen Kleidern, deren Stoff die Farbe von frischem Eichenholz hat, in meinem hart gewordenen Wams und dem viel zu dünnen Hemd. Trotzdem recke ich den Kopf und kämpfe mich weiter auf sie zu, und der Wind wird immer stärker. Wie durch Nebelschwaden sehe ich ihr königliches Gesicht mit dem dreilippigen Mund, und der Wallach unter ihr bläht seine Nüstern und blickt mich unruhig an.

 

Meine Beine werden schwach. Ich weiß, ich werde nicht mehr lange durchhalten, ich werde es nicht schaffen; ich werde herabgeschleudert werden und mir die Knochen brechen und sterben in meinem eigenen Blut und dem meines Pferdes, wie so viele vor mir, wenn sie mir nicht hilft...

 

Meine Lippen springen, und immer noch ist wie weit fort, weit, weit entfernt, und sieht mir mit ihren leuchtenden Augen entgegen. Der Sturm reißt an mir, er reißt und reißt, und meine Finger verkrampfen sich um die alten Zügel aus noch älterem Leder. Die Stute unter mir wiehert. Ich spüre in jeder Faser meines Körpers, dass bald der Wirbel kommt, der Wirbel, den sie schicken, um zu töten. Ich weiß, es wird gleich vorbei sein. Ein letztes Mal öffne ich den Mund, um die Worte noch einmal zu lassen, und mit letzter Kraft schreie ich sie in den heulenden Wind hinaus: “Ich bin verliebt in dich!”

 

Sie hebt den Arm. Augenblicklich wird es still, der Sturm ist fort. Die Beine meiner Stute knicken ein, und sie stolpert in der plötzlichen Flaute. Es gelingt mir, sie wieder hochzureißen, und zitternd trottet sie weiter. Meine Königin sitzt da, immer noch hält sie den Arm hoch in die Luft. Erst, als ich bei ihr angelangt bin, lässt sie ihn langsam sinken.

 

“Du weißt, dass du das nicht sagen darfst”, sagt sie mit ihrer dunklen Stimme, in der unendlich viele Obertöne mitschwingen, so dass sie klingt wie ein sirrender und zugleich dröhnender Gesang aus tausend Kehlen. Ich nicke stumm. Immer noch beben mir alle Glieder, und ich kann nicht glauben, dass sie es wirklich getan hat. Sie hat den Sturm mitgenommen, und ihre Macht ist so groß. Ich senke den Blick. Ihre Augen brennen auf meiner Stirn.

 

“Sag es noch einmal”, befiehlt sie.

 

Sie wird mich töten. Ich öffne den Mund.

 

“Ich bin verliebt in dich”, sage ich, und dann hebe ich den Blick und sehe ihr in die Augen. Ich sehe die kleinen Flammen, die sich der Mitte, dort, wo bei uns die Pupillen sind, bewegen, und ich sehe die kreisenden Flecken darum herum, und der Anblick ist das Schönste und Schaurigste, was ich je gesehen habe. Sie lässt mich gewähren.

 

“Barur”, sagt sie, und der Himmel scheint sich mit einem Mal zu verdunkeln. “Ich schenke dir noch ein wenig Zeit.”

 

Dann schwingt sie die Zügel herum und trabt zurück. Ich folge ihr. Mein Herz flattert.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke