»Na ja, ich weiß nicht. Das hier wirkt zu kalt, das wiederum zu dunkel, und das hier ist irgendwie beängstigend«, sagt der junge Mann, während er die Fotos nacheinander mit dem Finger berührt. Seine tonlose Stimme klingt beinahe tadelnd. Der Fotograf hatte zwar nicht damit gerechnet, dass der Junge angesichts dieser Fotos Angst oder Furcht empfinden würde. Aber er hatte schon erwartet, dass er sich zumindest peinlich berührt oder unbehaglich fühlen würde. Doch der junge Mann schaut sich schnell um, als würden die Fotos ihm nicht das Geringste ausmachen.
»Ach ja, das hier ist für Sie!«
Er zieht etwas aus seiner Tasche und hält es ihm hin.
»Machen Sie es schon auf! Meine Großmutter hat mir extra Geld gegeben, damit ich für Sie ein Geschenk kaufe. Ich habe ja keine Ahnung, was man einem Erwachsenen nach einer Schlägerei mit ihm schenken soll. Also habe ich einfach etwas gekauft, das mir gefällt.«
Verwirrt nimmt der Fotograf die Papiertüte entgegen, die der Junge ihm hinhält. Er ist es nicht gewohnt, Geschenke zu bekommen. Erst recht nicht von einem so jungen Menschen.
»Es ist ein Kopftuch. Ich zeige Ihnen, wie man es anlegt. Man nimmt hier das eine Ende und …«
Der Junge nimmt ihm das Tuch aus der Hand und schlingt es ihm um den Kopf. Er lässt ihn gewähren.
»Das ist zurzeit groß in Mode. Steht Ihnen sogar besser, als ich dachte. Schauen Sie mal in den Spiegel.«
Der Junge schiebt ihn zum Spiegel. Darin begegnet der Fotograf dem Bild eines fremden Mannes. Und dem Gesicht des Jungen, der hinter ihm amüsiert lächelt. Sein bartloses, wohlgeformtes Kinn, seine leicht geröteten Wangen, sein langsam breiter werdendes Lächeln. Plötzlich empfindet er ein Kribbeln im Bauch. Die merkwürdige Kraft des Jungen, die ihn abstößt und dennoch anzieht. Mit einem lauten Krachen bricht das Herz des Fotografen entzwei, ganz so, als würde das Eis aufbrechen.
*
Ein schief hängendes Werbeschild; vor einer Haustür herumliegende Nudelschüsseln; ein mit Speichelflecken übersätes Kopfkissen; ein alter Mann, der seine Karre hinter sich herzieht; die schrumpeligen Füße eines anderen alten Mannes; ein Paar auf einem Terrassenboden abgestellte Plastikpantoffeln; eine räudige Katze, die in Müllsäcken herumwühlt.
Während er ein Foto nach dem anderen betrachtet, kaut der junge Mann nervös auf den Fingernägeln und schaut ihn prüfend an. Seit Neuestem ist er vollkommen vernarrt in die Fotografie. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit greift er zu der alten Pentax, die ihm der Fotograf geschenkt hat, und bittet diesen hartnäckig um eine Beurteilung seiner Fotos. Er folgt dem Fotografen auf Schritt und Tritt – wie ein treuer Diener, der stets den Befehl seines Herrn erwartet –, und seine Gesellschaft ist diesem keinesfalls unangenehm. Wenn er, der sich wie ein zweiter Schatten in seiner Nähe aufzuhalten pflegt, ausnahmsweise einmal nicht bei ihm anzutreffen ist, so ist er zweifellos mit seiner Kamera auf Motivsuche unterwegs.
Die stark gekrümmten Zehen mit den abgewetzten Fußnägeln, der mit weißen Hautschuppen bedeckte Fußrücken und die dunkel gefärbte Hornhaut an den Knöcheln: ein Foto, das vollkommen unverhohlen offenbart, wie alte und kranke Füße aussehen. Sie sind Zeugen der Vergangenheit, eines mühevollen Lebens, und sie lassen die nahe Zukunft erahnen, in der sie nicht mehr voranschreiten werden. Dieses Foto, das der Junge aufgenommen hat, erzählt die Geschichte eines Menschen. Denn es zeigt nicht bloß alte und kranke Füße. Beim Anschauen dieses Fotos breiten sich im Betrachter ein leiser Schmerz und eine wohlige Wärme im Herzen aus, gerade so, als würde man an einem kalten Tag einen Löffel heißer Suppe essen. Das ist dem ruhigen Blick des Jungen zu verdanken, der irgendwo im Foto verborgen und mit Sorge, Stolz und tiefer Zuneigung erfüllt ist. Dem Fotografen sind jedwede Sympathie und jedwedes Mitleid für den menschlichen Körper längst abhandengekommen. Doch will er sich das nicht eingestehen.
»Was ist? Ist das Bild so schlecht?«, fragt der Junge zögerlich. Seine Augen sind voller Neugier. Er kann seinen unbändigen Wissensdrang nicht verbergen – seine Wangen erröten. Es ist die scheue Leidenschaft eines Jungen, der zum ersten Mal verliebt ist. Auch dieses Gefühl ist dem Fotografen längst abhandengekommen. Er beneidet den Jungen um diese Leidenschaft, Hingabe und sogar um die Unbeholfenheit seiner Jugend. Dessen kraftstrotzendes, jugendliches Temperament lässt ihn nur umso elender und kümmerlicher erscheinen. Doch möchte er diese Gedanken dem Jungen gegenüber nicht offen aussprechen. Schließlich würde er damit dessen Jugend anerkennen und gleichzeitig eingestehen, dass er ihn darum beneidet.
»Das hier wirkt zu dunkel, das zu beängstigend und dies hier irgendwie zu schmutzig«, sagt er, während er flüchtig durch die Fotos blättert. Doch im selben Moment bereut er sein Urteil. Denn so etwas Ähnliches oder sogar genau das Gleiche hatte der Bursche zu ihm gesagt, als er seine Aktfotos zum ersten Mal gesehen hatte. Der Junge, der seinem Urteil mit mürrischer Miene zugehört hat, versetzt ihm einen Hieb in die Seite. Und als würde er mit einem Altersgenossen spielen, gibt er vor, ihn am Hals zu würgen, und lacht dabei.
»Das gibt es doch nicht! Dasselbe habe ich damals zu Ihnen gesagt!«
© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke