Der Mann deiner Großmutter, also mein Vater, war Oberkellner im einzigen Hotel in der Stadt. Als er dann Karriere machte, unter Hitler, du weißt ja, hat er das Haus für sich und seine Frau, vor allem aber zum Repräsentieren, in diesem Bessere-Leute-Viertel bauen lassen. Direkt am Seeufer, das wäre dann wohl doch zu kostspielig geworden.
Aber das hat doch bestimmt trotzdem sehr viel Geld gekostet, fragt Kilian den Rücken der Mutter, und er sieht ihren gesenkten Kopf heftig nicken.
Mein Vater hatte einen wohlhabenden Bruder. Der hat ihm mit ’ner Menge Geld unter die Arme gegriffen. Zeit und Gelegenheit zum Repräsentieren blieb dem Herrn Emporkömmling allerdings kaum, sagt sie und gluckst spöttisch auf.
Wieso blieb dem kaum Zeit?
Im Krieg geblieben, murmelt die Mutter.
Sie trocknet ihre Hände mit dem Geschirrtuch ab, setzt sich Kilian gegenüber an den Tisch und ergreift seine Hände, die aufgeregt das Trinkglas hin- und herdrehen.
Im Krieg geblieben, hat sie gesagt. Kilian sieht der Mutter in die Augen und übersetzt es sich.
Krieg ist böse. Wenn im Fernseher Bilder vom Krieg gezeigt werden, schließt Mu sofort das Türchen. Er braucht das Wort Krieg nur zu hören, schon weiß er, um was es geht. Krieg ist Feind und tot machen, Menschen und Häuser.
Mu und Großmutter reden manchmal vom Krieg.
Mus Vater ist also da liegen geblieben, wo ihn ein Feind totgeschossen hat, irgendwo im Krieg. Wo auch sonst, wenn er den Krieg so toll fand. Davon hat sie ja schon öfter erzählt.
Aber Emporkömmling, was ist denn das?
Sie lächelt.
Mit seiner Fragerei bringt er seine Mu manchmal in Verlegenheit, das merkt Kilian daran, dass sie die Augenbrauen hochzieht und seufzt, er weiß aber auch, sie wird ihm antworten, so gut sie kann und wo sie auch gerade sind, ob jetzt hier in der Küche oder auf der Straße. Oder am Sonntag beim Spazierengehen draußen am Fluss.
Also Emporkömmling.
Das ist jemand, der sich durch Schöntun, Unterwürfigkeit und Dienstbereitschaft Vorteile bei denen verschafft, die das Sagen haben.
Das Sagen haben. Kilian zieht spitze Lippen, blinzelt nachdenklich und stellt sich vor, diejenigen, die das Sagen haben, tragen es in einer Einkaufstasche oder auch in der Hosentasche gequetscht bei sich und holen es heraus, wenn sie es benutzen wollen.
Kaum an der Luft, bläst es sich auf, das Sagen, und drückt die anderen Leute an die Wand. So könnte es sein mit dem Haben vom Sagen. Aber repräsentieren, Mu, was soll denn das nun wieder sein?
Mu zieht die Augenbrauen hoch. Etwas nach außen vertreten.
Was denn?
Eine Firma, ein Volk, eine Familie.
Kilian denkt an Gisela, das lustige Mädchen, das letztens mit Olav zum See kam. Olavs Mutter war irgendwie verhindert, die kichernde Gisela hat sie also vertreten. Hat Gisela Olavs Mutter repräsentiert?
Kann er sich nicht vorstellen. Er merkt, seine Mu ist noch nicht fertig mit Erklären.
Die Männer in der Regierung, auch der Bürgermeister – sie grinst –, die sollen das Volk repräsentieren, das sie gewählt hat.
Es sind verschiedene Personen, wie ihre Namen beweisen, trotzdem zeigen alle den gleichen Gesichtsausdruck, wenn sie Kilian allein oder zusammen mit seiner Mutter im Treppenhaus und draußen auf dem Gehweg entgegen- oder an ihnen vorbeigehen. Sogar die direkten Nachbarn, das ältliche Ehepaar in der mittleren Wohnung sowie Vater, Mutter und kleine Tochter in der Wohnung gegenüber, sehen seit jener Abfuhr am ersten Abend, als Marianne sich und ihren Sohn als neue Nachbarn vorstellen wollte, betont abweisend an Kilian und seiner Mutter vorbei.
Auf das kleine Mädchen, das Kind dieser Eltern, trifft die Beschreibung nur vordergründig zu.
Als nämlich Kilian der Kleinen an einem der ersten Tage allein auf der Treppe begegnete – die Eltern waren schon unten an der Haustür und riefen zu ihr hoch, sie solle nicht so bummeln –, da hat er sich ein Herz gefasst, ist kurz stehen geblieben und hat sie angelächelt. Und sie hat ihn groß angeguckt und zurückgelächelt. Seitdem lächeln Kilian und das Kind einander an, mal offen, mal versteckt, je nach Situation. Es geschieht ohnehin viel zu selten.
Bei der dritten oder vierten Begegnung auf der Treppe und draußen auf dem Gehweg war es ihm bewusst geworden, dass sich der abweisende Ausdruck den Leuten wie eine Maske aufs Gesicht legt. Als hätten sie sich miteinander abgesprochen, die Nachbarn, als legten sie einen Schalter um und stellten auf böse, sobald sie die neuen Mieter sehen, die inzwischen schon lange nicht mehr neu sind. Kilian senkt den Kopf und starrt auf die Stufen und bewegt die Lippen automatisch zum angedeuteten Gruß. Er ist sich nicht sicher, ob er sich wegen der Freundlichkeit seiner Mutter schämt, die den Leuten nach wie vor einen guten Tag wünscht, oder ob er stolz auf sie ist. Sie brauchen ihre Feindseligkeit gegenüber denen, die ihnen nicht gleichen, sagte sie, als er sie fragte, ob sie sich vorstellen könne, warum eigentlich diese Leute so hässlich zu ihnen sind. Daran muss er oft denken. Aber warum brauchen sie das so, hat er sie gelöchert, warum?
Damit sie merken, dass sie da sind.
Kilian bewundert seine Mutter dafür, wie sie ihm so Unbegreifliches wie Unfreundlichkeit und Gehässigkeit und Neid erklärt oder richtiger, wie sie es mit nur ein paar Worten durchleuchtet. Aber das kleine Mädchen, hat er sie gefragt, warum ist es nicht so?
Es ist wohl noch bei sich selbst, hat sie geantwortet. Oder, das ist ihr dann noch eingefallen, vielleicht gibt es in ihrem kleinen Leben irgendjemanden, der anders ist und zu dem sie sich manchmal flüchten kann.
Kilian will das auch können, auf seine Weise will er auf den Punkt bringen, was seine Gedanken beschäftigt. Aber er zeigt Marianne seine Bewunderung höchstens mit einem Kopfnicken. War sie es doch selbst, die mal zu ihm sagte, Bewunderung bringe den Bewunderten nur Stillstand. Wieder so eine Mutterweisheit. Weisheit, das hat er gelesen, sei die Fähigkeit, hinter die Dinge, wie sie erscheinen, zu sehen. Seine Mu hat es drauf, dieses Sehen hinter die Dinge. Wer hat ihr das beigebracht?
Ihre Mutter ganz sicher nicht, und deren Mann, der Vater seiner Mu, der Emporkömmling, der bestand doch nur aus Befehlen, dieser Kriecher, so einer denkt nicht, so einer kann außer Gehorchen niemandem was beibringen.
Wie kann man nur von sich aus so klug sein, fragt sich Kilian.
Seit er aus dem Mund seiner Mutter hörte, manche Leute verhielten sich feindselig gegenüber anderen, weil sie dann merken, dass sie da sind, beschäftigen sich seine Gedanken damit, wer oder was für ihn wichtig ist, damit er merkt, dass er da ist. Seine Mu zeigt es ihm allein dadurch, wie sie ihn ansieht. Ihre Stimme und was sie zu ihm sagt, lässt es ihn auch merken. Das Leben ist kurz, die Bosheit so schwer, Bosheit klemmt einem die Luft zum Leben ab, hat sie gesagt, als Kilian sie fragte, warum sie die Nachbarn trotzdem grüßt. Er ahnt, was sie damit meint. Er hat genickt und gegrinst und gleich wieder gemerkt, dass er da ist.
Er merkt es, wenn er Wörter sucht. Das Suchen nach Wörtern, es kommt ja aus ihm. Es steckt in ihm drin. Schreiben ist suchen. Das fiel ihm einmal ein, und er findet, es stimmt. Schreiben ist suchen. Ist das eine Weisheit? Wenn er an den Mann denkt, seinen Vater, der zusammen mit seiner Mutter schuld daran ist, dass er, Kilian, auf der Welt ist, wenn er diese Wut in sich spürt und sich ausmalt, wie dieser Mann, sein Vater, und er, Kilian, eines Tages einander gegenüberstehen und sich in die Augen blicken werden, dann spürt Kilian sich, sein Vorhandensein in seinem Leben derart schmerzhaft, dass er losrennen muss, raus aus der Wohnung, aus dem Haus, weg von dieser kahlen Straße, irgendwohin, wo der Boden unter seinen Füßen federt und eine Wolke ihm von da oben ihre Hand reicht.
Und wenn er Matthias sieht, ihn ansieht, wenn er nur an Matthias denkt, seinen Klassenkameraden, dann merkt Kilian es auch. Er ist da.
Es gibt ihn, und das ist gut.
© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke