Am 12. August 1961, einem sonnigen Sonnabend, hatten wir uns vor der Akademie der Künste am Hansaplatz verabredet. Wenn ich mich richtig erinnere, gab es dort eine Paul-Klee-Ausstellung. Die Verabredung klappte, wir kämpften uns schauend und redend durch die riesige Ausstellung, für die wir nach Vorzeigen unserer Ausweise einen erheblich veminderten Eintritt zahlten. Zum Kaffeetrinken hinterher hatten wir natürlich kein Westgeld, Kaffee gab es ohnehin nicht zum Ost-Tarif. Also zückten wir unsere Monatskarten und fuhren nach Hause, voller Gesprächsstoff über Kunst. Erst mal mit der U-Bahn zum Bahnhof Zoo. Dort angekommen, überlegten wir: Fahren wir nun mit der Straßenbahn die Bundesallee runter bis zum S-Bahnhof Steglitz, um dort in die S-Bahn nach Zehlendorf umzusteigen, oder nehmen wir lieber den Westbus? Die Busse im Westen waren unvergleichlich eleganter als die Ostbusse mit den langen Schnauzen und stinkenden Hinterteilen. Westbusse hatten ein abgeflachtes Heck, sie waren sauber und bequem und auch innen drin roch es kaum. Wir warteten also auf den Bus. Der fuhr uns bis zum S-Bahnhof Steglitz, von dort fuhr uns die Wannseebahn nach Zehlendorf, wo wir in die Pendelbahn Zehlendorf-Düppel umstiegen. Am Grenzübergang Düppel zeigten wir unsere Ausweise vor wie immer und wie auch alle anderen Leute, die nach Kleinmachnow wollten. Nichts war zu merken.
Am nächsten Vormittag, am Sonntag, den 13. August, ging ich nach der Morgentoilette in unsere sonnendurchflutete Veranda, wo meine Mutter und mein Bruder bereits am gedeckten Frühstückstisch saßen. Was ist denn los, fragte ich, als ich ihre erschrockenen Gesichter bemerkte.
Sie haben die Grenze zugemacht, murmelte meine Mutter.
Wie? Was?
Sie wollen eine Mauer um unser Land bauen und niemanden mehr rauslassen.
Ich wusste ja, wir wussten es alle, die DDR war von Entvölkerung bedroht. Das ist nicht übertrieben. Täglich hauten Tausende ab in den Westen.
Mein Herz fing an zu rasen. Ich konnte nichts sagen. Mein Freund Pete, mein erster Freund, lebte in Schöneberg. In Westberlin. Im Westen. Alle meine neuen Freundinnen und Freunde lebten in Westberlin.
Dann sah ich meinen Vater in der Verandatür stehen. Sein Gesicht war verkniffen, er biss sich auf die Lippen, er schnaufte, er kämpfte mit den Tränen.
Und für dieses Land, brachte er heraus, hab ich dreizehn Jahre lang meine ganze Kraft gegeben.
Er setzte sich hin. Ich weiß es noch, wir beschmierten trotzdem unsere Brötchen mit Butter und Marmelade und bissen hinein und kauten. Nun erst recht.
Die Mauer erhielt von Seiten der Ulbricht-Regierung einen fantastischen Namen, dessen komplizierte Aussprache in den Zeitungen, in Rundfunksendungen und im Fernsehen eifrig einhämmernd geübt wurde. Antifaschistischer Schutzwall.
Für die DDR-Bürger, die in der Hauptstadt der DDR arbeiteten, wurde ab sofort eine Umgehungsbahn, Sputnik genannt, eingerichtet. Die Fahrt, die nicht mehr durch Westberlin verlaufen konnte, sondern im Bogen um Westberlin herum, dauerte circa zwei Stunden hin und zwei Stunden zurück. Ich bezog ein möbliertes Zimmer in der Oranienburger Straße, um die Ecke von meiner Arbeitsstelle in der Deutschen Bücherstube. Mein Vater nahm wie die meisten anderen, die in Ostberlin arbeiteten, die lange Fahrt auf sich. Mein Freund Pete, der als Amerikaner von West- nach Ostberlin einreisen durfte, erschien am Dienstag, den 15. August, in dem Geschäft und versprach mir im Flüsterton, dafür zu sorgen, dass ich in den Westen komme.
Ungeachtet des Versprechens beriet ich mit meinem Schulkumpel, der mich manchmal am Wochenende besuchte, sportliche Möglichkeiten der Mauerüberwindung.