Zuhause hause ich, schlafe, esse, dusche, nehme die Zeitung mit aufs Klo, koche mir Kaffee, mache mir Gedanken, lese, telefoniere. Lade Freunde ein. Hänge mich vor die Glotze. Laufe in alten
Klamotten rum, kratze mich, rede mit mir und den Pflanzen. Schreibe meine Geschichten. Aus dem Vertrautsein gehe ich raus, ins Vertrautsein kehre ich zurück.
Von draußen nimmt mich etwas Vertrautes mit.
Zuhause ist noch etwas anderes als die Räume, die Wände umschließen. Es ist die Gegend, die wandlose Hülle um mich, meine Wohnung, das Haus. Im Lauf der Zeit hat sich da ein Bodensatz gebildet,
eine Neige atmosphärischer Partikel. Sie stieben auf, wenn ich meine Füße vor die Haustür setze. Meine Gegend ist so unverwechselbar wie dem Kleinen Prinzen die Rose. Kein Gebäude, dessen
Architektur meine Augen beglückt, kein Platz mit Bäumen, auf dem ich lesend oder schauend verweile, kein Haus, an dem ich mit schlüpfrigen Gedanken vorbeigehe. Nichts Besonderes. Geschäfte,
Restaurants, ein Supermarkt. Von einem Balkon schräg gegenüber schlappt ein verbleichendes, verdreckendes Spruchband: »Umwelt tut not …« Keine Stammkneipe, aber ein Stammgefühl. Mein Kiez, mein
Wohnsinn gebendes Medium. Meine Schritte haben sich dem Pflaster angepasst. Meine Nase erkennt Gerüche, meine Ohren ordnen Geräuschen Tageszeiten zu, meine Augen erschrecken nicht. Meine
Sinnesorgane, woanders gereizt auf dem Sprung, hier sind sie bereit, Lästiges zu verzeihen.
Seit ich hier wohne, verfolge ich das Wachsen der Bäume vor meinem Fenster. Vor Jahren haben Männer vom Gartenbauamt drei winzige Rubinien vor der nächsten Ecke eingepflanzt. Inzwischen überragen
die Bäumchen ihre Gitter schon ums Mehrfache. Vorletztes Jahr ist die Rubinie vor meinem Balkon eingegangen. Seitdem bange ich um den Baum vor den Fenstern des Erkerzimmers. Jedes Frühjahr
dieselbe Frage: Wieso wird mein Baum langsamer grün als der vor dem Nachbarhaus? Es muss am Licht liegen. Sonnenlicht, das Laune macht und nimmt, ist hier so wenig selbstverständlich wie das
Grüßen. Vorübergehend streift man sich mit einem Blick. Diskretes Ritual des Erkennens. Ich weiß, sagen Augen.
Die schwarz behütete alte Dame tippelt mit ihrem fetten Hund immer gerade vorbei, wenn ich aus dem Haus trete. So kommt es mir vor. Eine nudeldicke Frau, das Haar gewaltsam hochtoupiert, begegnet
mir stets an der gleichen Stelle auf dem Gehweg, etwa in Höhe des portugiesischen Keramikladens. Ich nenne sie Carmen. Seit zwölf Jahren empfange ich Carmens grimmigem Blick. Manchmal geht neben
ihr ein spannenlanger Kerl. Den Keramikladen habe ich nie betreten, weil ich bemaltes Geschirr nicht besonders mag. Ich ignoriere den bebrillten, kraushaarigen Mann, der handgestrickte Jacken und
gewebte Decken auf einem Gestell vor dem Laden ausbreitet. Aus nachbarlicher Solidarität sollte ich da mal etwas kaufen, denke ich jedes Mal. Der Widerstreit zwischen Denken und Handeln vor dem
portugiesischen Keramikladen gehört wie Carmen und die tippelnde Frau mit dem Hund zu meiner Zuhauseatmosphäre.
Was nützte einem der beste Füller ohne Tinte. Die schönste Wohnung wäre nichts als eine formale Notwendigkeit, müsste ich sie betreten ohne atmosphärischen Flitter von draußen, den ich drinnen
abschüttele und um mich herum verteile. Müsste ich den Mantel ausziehen ohne das Gefühl von Geehrtsein nach dem Lächeln meiner Lieblingskassiererin, die Spur Lästerei, Carmen betreffend, eine
Nase Duft aus dem Stehcafé, das Aufatmen nach dieser bestimmten seltsamen nächtlichen Verlassenheit meiner Straße.
Morgens schnuppere ich Meerluft. Vor der Tür des Nachbarhauses steht die Hauswartsfrau wie ein Wachmann mit geblümter Schürze, die Arme vor der Brust verschränkt. Vor der Berufsschule gegenüber
warten zukünftige Friseure. Während der Pausen glotzen sie aus ihren Klassenzimmern in mein gardinenloses Zimmer. In den Ferien fehlt mir mein Ärger über das Geglotze. Nachmittags spielen
und kreischen Kinder auf dem Gehweg. An der Tür des Eisenbahnladens um die Ecke lehnt grinsend der Dickbäuchige mit dem zu kurzen Nicki.
Viele Leute merke ich mir nicht. Die Gesichtslosen gehören wie die von mir erkorenen Originale in ihrem kurzen, täglichen Auf- und wieder Wegtauchen zu meinem Zuhause. Wiederholungen erwarten
mich. Bleibt etwas aus, ist es, als hätte ich gerade darauf gewartet. Mein Ehepaar, wo steckt es denn heute? Schon von Weitem sehe ich es sonst, wie es eingehakt daherkommt. Er, hager, bleich,
steif vorgebeugt. Im Vorbeigehen mein Denksport Beruferaten. Doktor der Philosophie. Pfarrer, Spezialgebiet Totenpredigten. Vertreter für exquisite Hosenträger. Sie ist viel kleiner als er und
rundlich. Ihr Wangenrot macht seinen bitteren Mund wett.
Als Taifun, der junge Türke, den ich schon als Rotzbengel kannte, mit einem alten Mercedes vorgefahren kam und Vater, Mutter und Geschwister stolz um die Kutsche rumgingen und sie anfassten, nahm
ich im Vorbeigehen an dem Ereignis teil. Sieh an, tratschte ich mit mir, der Taifun mit den blauen Augen, verheiratet, Vater auch schon. Hat früh angefangen, der Bengel. Seine junge Frau, das
Baby im Arm, steht in der Sonne vor der Haustür, stundenlang. Hoffentlich kann der Junge seine Familie ernähren. Aber wenn sie sich einen alten Mercedes leisten können … Taifuns Eltern und ich
grüßen uns, mal sie zuerst, mal ich. Der Vater lächelt, hebt die Hand leicht an und sieht mir in die Augen. Die Mutter nickt. Ich sage »Tag« und lächle und fühle mich beschenkt.
Vor einigen Jahrzehnten wären sie eines Tages verschwunden. Der Gehweg vor dem Nachbarhaus, wo die kinderreichen arabischen Familien wohnen: leer und ohne Gekreisch. Der kleine Grauhaarige mit
der Schiebermütze läge eines Sonntags nicht, umgeben von tausend Werkzeugen, unter seinem Auto; von diesem Sonntag an nie wieder. Manche gesichtslosen Leute trügen den Kopf auf einmal so
merkwürdig hoch. Ich zöge mich in meine vier Wände zurück. Der hagere Radfahrer um die vierzig aus dem Nachbarhaus links, der, jeder weiß es, niemand kann es beweisen, den auf Gehwegen parkenden
Autos die Luft herauslässt, wäre Blockwart. Denunzierte Nachbarn, die zu Staatsfesten nicht flaggen. Oder er wäre Mitglied einer Untergrundorganisation und schriebe nachts politische Warnungen an
die Wände.
In meinem Haus wohnt ein junger Mann, der nicht grüßt. Vor Jahren versuchte ich es mit Zuerstgrüßen. Einmal klebte ein Zettel an der Wand des Hausflurs, neben meiner Tür: »Was ist das für eine
Nachbarschaft, wenn jemand seine stinkenden Mülltüten im Hausflur abstellt und damit das ganze Haus verpestet.« Ich entschuldigte mich postwendend mit einem Zettel an derselben Stelle und schlug
dem Anonymus vor, sich das nächste Mal persönlich zu beschweren, ich bisse nicht. Das grußlos Wegschauende des jungen Mannes hängt an mir, wenn ich die Tür schließe. Der verfliegende Gedanke: Vor
Jahrzehnten, was müsse ich da auf so einem Zettel lesen, wie weit würde ich mich in meiner Entgegnung wagen?
Mein Zuhause, meine Provinz. Mein kindliches Bauklötzchenspiel, das ich mir aus Atmosphäre-Elementen von drinnen und draußen zusammensetzte. Freundliches und Befremdliches, Gewöhnliches und
Erstaunliches, Beobachtungen, die wärmen und mich frieren lassen, meine Stimmung über Stunden tönen.
Die alte Fensterguckerin zwei Häuser weiter runzelt über mein Wendemanöver in ihrer Einfahrt die Stirn. Die Kassiererin sagt, sie habe mich schon so lange nicht gesehen. Der Dicke mit dem zu
kurzen Nicki vor seinem Laden für gebrauchte Spielzeugeisenbahnen ruft mir hinterher: »Immer eilig!«
Ich nehme das alles mit, mache die Tür zu und erkenne mich.
So weit haben wir es gebracht, dass ein sprachliches Bläschen, das Wort NOCH nicht bei allen, doch bei einigen von uns Panikstimmung auslösen kann. Irgendwann wurde NOCH losgemacht und fing an zu
bedeuten. Es wirkte und wirkt von Rezession zu Rezession zuverlässiger im Zusammenhang mit Geburtsurkunden, Personalausweisen, Statistiken und Abstellgleisen. Heute wird gezählt und nachgezählt,
damit sich Menschen Urteile über andere Menschen bilden.
»Jahrgang fünfundsechzig? Na, sagen Sie mal, entschuldigen Sie schon, aber was suchen Sie eigentlich noch bei uns?« In der Art werden ältere Bewerberinnen und Bewerber um Arbeit und Anstellung
nicht erst seit vorgestern abgefertigt.
Da haben wir es. Seines Sinns entkleidet ist NOCH nichts weiter als der Seufzlaut eines zufriedenen Schweins. Dosiert in die Sprache gestreut und in Verbindung mit einer Zahl gebracht, entfaltet
es seine schä(n)dliche Wirkung. Herumgrübeln am NOCH hat so manchen Betroffenen Magengeschwüre, Augenringe, schlechte Körperhaltung und, sprechen wir es aus, Impotenz und Suizid
eingebracht.
»Für fünfzig siehst du aber noch gut aus.«
»Erstaunlich, was sie in ihrem Alter noch leistet.«
»Zweiundvierzig und drei Kinder? Dafür ist deine Figur aber wirklich noch prima.«
Dem Kratzakt Denken setzt ein Mechanismus zu, der das Miteinander erschwert: das Bewusstsein. Es zeigt sich darin, dass eine oder mehrere Gruppen gegen eine oder mehrere andere Gruppen etwas
haben. Buhmänner und Buhfrauen müssen her, um das Bewusstsein bei der Stange zu halten.
»Trauen Sie sich in Ihrem Alter die intellektuellen Anforderungen eines Studiums denn noch zu?«, wurde eine Neununddreißigjährige bei ihrem Bewerbungsgespräch für ein Aufbaustudium gefragt. Die
Befragte antwortete, die Fliege des tückischen NOCH und die Wanze des Buh-Bewusstseins mit einer Klappe schlagend: »Wenn ich in diesem Alter noch den Führerschein mache, werde ich den
Anforderungen eines Studiums wohl auch noch genügen.«
Bisher, behaupte ich, haben sich Buhmänner und -frauen zu ihrem Anderssein bekannt. Wer aber heute über dreißig ist, läuft dem Nichtmehr davon und dem NOCH hinterher, um nicht ausgebuht zu
werden. Man rackert sich ab, um zu hören: »Siehst aber noch jung aus.« »Bist wirklich noch gut in Form.«
Saunas, Solarien, Fitness-Studios, Joggingpfade, Kosmetikstudios, medizinische Hebungs- und Straffungsspezialisten und noch jede Menge andere Einrichtungen, die den Himmel auf Erden versprechen,
sind besetzt von Leuten, die an ihrem NOCH kratzen. Die Gruppe der Buhleute ist nicht abzugrenzen. In ein paar Jahren, zeigen die kümmerlichen Daten im Ausweis, bist auch du dran, genocht zu
sein. Kaum ein Industriezweig, der kein Kapital schlüge aus dem Kampf- und Krampfbereich zwischen noch nicht und nicht mehr. Wir fahren das junge Auto, lümmeln uns auf der jugendlichen
Couchgarnitur, selbstverständlich vor der zeitlosen Schrankwand. Aufschäumend genießen wir unter der Dusche das Gefühl prickelnder Frische. Die bebilderten Versprechungen der Werbeanzeigen in
Apotheken, Drogerien, auf Plakaten und vor allem im Fernsehen sind Ausflüsse der Bildtechnik und der Sprache, Metastasen des NOCH, mit denen das Denken nicht mitkommt. Alt werden, alt sein, dem
NOCH nicht mehr genügen? Massenhaft umzingeln uns Sesam-öffne-dich-Kombinationen, mit deren Hilfe alles Mögliche gestrafft, die Bewegungen in Schwung, das Aussehen und das Feeling unschätzbar
gehalten werden soll. Der Magie des NOCH gelingt es, Altern zum Dämon, zu einer gruslig nachteiligen Erscheinung zu verwünschen, die über uns zu kommen droht, wenn wir nicht aufpassen. Ohne zu
denken glauben wir daran, wenn das Alter zum Geist heruntergezaubert wird, der sich austreiben lässt. Jedem Buhmann, jeder Buhfrau ist die Möglichkeit anheimgestellt, der eigene Magier zu werden.
Schluck Pillen, bestreich dich, trainiere die Muskeln und Simsalabim verschwinden die Zahlen in der Jackentasche, im Handschuhfach. Gleichsam unterm Hut. Erst auf dem Bewerbungsformular tauchen
sie wieder auf, unretuschiert. Von dort lässt es sich nicht wegkratzen, das wahre Alter. Gegen die Brennnesseln amtlicher Zahlen sind noch (!) keine Vertilgungsmittel gefunden worden.
Die Autorin rät solidarisch allen potenziellen NOCH-Betroffenen, sich da weder reinzusetzen noch reinlegen zu lassen.
P.S. Sport treiben tut trotzdem gut. Und Lachen ist gesund.
Zuhause bleiben. Möglichst den ganzen Tag. Nur zum Einkaufen raus, zum kleinen Spaziergang. Und dann gleich wieder nach Hause und Tür zu und: tschüss, Welt.
Quarantäne ist keine Freizeit, auf die man sich lange gefreut hat, kein Urlaub, wo man endlich mal ausschlafen kann. Sich in Quarantäne begeben heißt, einer notwendigen Maßnahme zu folgen.
Quarantäne bedeutet bestmöglichen Schutz vor Ansteckung. Das Wort entstand Ende des 14. Jahrhunderts, als in Europa die Pest Millionen schutzlose Menschen leiden und sterben ließ. In Venedig
mussten pestverdächtige Seeleute aus Übersee vierzig Tage (quaranta giorni) auf ihrem Schiff bleiben, ehe sie an Land durften.
Ob auch wir vierzig Tage oder weniger oder mehr in unserem persönlichen Schiff, unserer Wohnung bleiben müssen, wissen wir nicht. Immerhin ist es uns erlaubt, einkaufen und höchstens zu zweit
spazieren zu gehen, wenn wir nur die Abstandsgebote einhalten. Und das tun wir. Jede und jeder Einzelne von uns könnte das Virus in sich tragen, es draußen über die ausgeatmete Luft und über
Berührung anderer mit den Händen weitergeben. Nicht alle, die vom Virus befallen sind, haben auf einmal diese charakteristischen Symptome und werden krank. Aber sie könnten den Virus ahnungslos
streuen. Die meisten von denen, die erkranken, überstehen die Krankheit. Manche müssen daran sterben. Niemand weiß das vorher. Uns alle kann es treffen.
Quarantäne. Abschottung von der lebendigen Umwelt. Bestmöglicher Schutz vor Ansteckung, Krankheit und Tod. Von den üblichen Kontakten mit Nachbarn, Freunden, Kolleginnen und Kollegen und von
irgendwelchen Mitmenschen, mit denen man im Supermarkt oder im Café, im Kino oder sonst wo ins Gespräch kommt, ist man nun nicht etwa durch irgendwelche Umstände getrennt, die von heute auf
morgen wieder vorbei sein könnten. Nein. Isoliert ist man. Von allen und allem, was uns bis eben noch zugewandt war. Auf unbestimmte Zeit allein mit sich selbst, allein mit dem Partner, der
Partnerin, allein mit den Kindern und dem Fernseher.
Manche Menschen können diese Abschottung trotz Telefon, Mail und Skypen nur schwer aushalten. Bei schlechtem Wetter bleibt man, außer zum Einkaufen, freiwillig zu Hause, manchmal tagelang,
aber man könnte raus, das weiß man, und das ist der Unterschied. Unter Androhung von Bußgeldern verordnet, angeordnet, befohlen in den eigenen vier Wänden bleiben zu müssen, ruft bei einigen
Leuten beklemmende Erinnerungen wach. Diktatur der Quarantäne.
Sehr viele Männer und Frauen, die gerade eben noch ihre Arbeit im Kaufhaus, im Büro, im Hotel, in Kneipen, Restaurants, im Betrieb hatten, dürfen nicht mehr arbeiten, oder wenn doch, dann nur
stundenweise. Und nach dem bisschen Arbeit nicht auf ein Bierchen in die Kneipe, nicht auf ein Schwätzchen ins Café, nein, ab nach Hause in die Quarantäne. Die Wohnung ist auf einmal viel zu
klein. Dauernd den Mann, die Frau um sich rum, so hat man sich das Zusammenleben nicht vorgestellt. Und die Kinder – ohne ausreichende Bewegung können sie sehr anstrengend sein. Die alten
Menschen in den Seniorenheimen dürfen keine Besuche von ihren Lieben bekommen.
Das Dasein unter Quarantäne kann traurig stimmen. Der Frust, der sich in diesem eingesperrten Leben mit der Zeit ansammelt, lässt manche Menschen ausrasten. Sie lassen ihre Wut mit Flüchen und
Schlägen an ihren Nächsten ab. Dann merken sie wieder, dass es sie gibt.
Quarantäne. Wochenlang. Monatelang. Wer weiß, wie lange noch. So lange, bis das Mittel gegen den heimtückischen Virus gefunden und in akribischer Laborarbeit massenhaft in Form von Injektionen
oder in Tablettenform hergestellt worden ist. So lange, bis dieses gefundene Gegenmittel bei sämtlichen Bürgern aller Länder angewendet werden kann.
Das Leben unter den Bedingungen der Quarantäne wird aber nicht nur und durchaus von allen Betroffenen als unerträglich gesehen. Die viele Zeit, die auf einmal unausgefüllt um uns herum ist, kann
sich zum Beispiel auf die Aufmerksamkeit auswirken. Man sitzt auf dem Sofa und schaut sich um. Die Wände im Wohnzimmer brauchen unbedingt frisches Weiß, und wenn man schon dabei ist, auch die
Küchenwände. Man muss zwar ewig mit Abstand anstehen vor den Baumärkten, weil offenbar noch tausend andere auf die Idee gekommen sind, ihre Wohnung zu renovieren, aber man hat ja Zeit. Und die
verstreicht sich beim Anstehen, auch an den Kassen. Eh man sich an die Arbeit macht, schaut man in den weggerückten Schränken nach, überprüft die Regale. Wie viel unnützes Zeug! Warum ist einem
das nicht schon lange aufgefallen? Vor den Gewerbehöfen der Stadtreinigung warten neuerdings schlangenweise Autos. Hausmüll, alte Stühle und Tischchen, Klamotten, alte Töpfe, Geschirr und so
weiter – weg damit.
Quarantäne. Der berühmte Buchtitel »Die Erfindung der Langsamkeit« kommt mir in den Sinn. Verpflichtungen, Termine, das Gehetze von einer Aktivität zur nächsten – diese ganze Betriebsamkeit, mit
der man sich den Stempel der Unentbehrlichkeit und Unterscheidbarkeit aufdrückte, das alles geht nun nicht mehr. Fällt bis auf weiteres aus, nicht anders als draußen die Kulturvorstellungen. Was
nun? Mach was anderes. Entdecke dich nicht neu, aber anders. Nicht die Zeit hat dich, sondern du hast sie jetzt in deiner Hand, die Zeit. Zeit zum Beispiel zum Skypen oder für lange Gespräche am
Telefon, bei denen man sich auch nahekommt, ohne an einem Tisch zu sitzen. Die Gespräche beginnen mit: Wie geht’s? Gut, und selbst? Und wenn das erledigt ist, kommt jede und jeder am anderen Ende
in Erzählfahrt. Thema Nummer eins: die Situation. Wir haben alle unsere eigene kleine Meinung dazu, wir läs-tern, wir hoffen. Wir tauschen unsere Eindrücke aus. Übers Wetter, über Beiträge im
Fernsehen, über Filme. Darüber, was die Quarantäne mit uns macht. Telefonieren, bis der Akku alle ist. Mails verschicken. Briefe schreiben. Dasitzen, dankbar, gesund zu sein, an die Betroffenen
denken. Die armen Alten.
Quarantäne. Traurigkeit. Nachdenken über sich selbst, über uns. Schöne Tagträume über die Welt und unser gemeinsames Leben, wenn wir entlassen sind.