Sigrun Casper: Männergeschichten

Leseprobe


Susanne ist die Schönste

Er hielt die Augen geschlossen. So was hatte er auch in Wirklichkeit schon mal gesehen. Aber da nannte man das nicht Tür. Im Traum war es für ihn eine Tür, keine Wand und auch kein Kinovorhang, was sich vor seinen Augen nach oben schob. Dahinter war es sehr hell. In ihm war noch immer diese Helligkeit. Er gähnte den Schlaf von sich weg und drehte sich auf die Seite. Mutters Kopf erschien im Türspalt.

 

»Nanu! Mein großer Penner schon wach! Guten Morgen!«

 

Mit dem rechten Bein zuerst stand er auf, ging zum Fenster und zog den Vorhang zur Seite. Nun war er wirklich wach.

 

Mutter goss ihm Milch ein. Schaute ihn an, ohne zu fragen. Das tat sie sonst nie, ihm eingießen und dabei kein Wort sagen. Oder war es ihm bisher noch nicht aufgefallen? In ihrem Gesicht spiegelte sich die Milch. Tom trank einen Schluck, bestrich eine Stulle mit Butter und Erdbeermarmelade. Während er abbiss und kaute, machte er sich seine beiden Schulbrote fertig, eins mit Leberwurst, eins mit Löcherkäse. Mutter las in der Illustrierten, die neben ihrem Kaffeebecher lag. Wetten könnte er, dass sie sich nichts von dem merkte, was sie mit den Augen überflog. Wie er, wenn er im Geschichtsbuch las.

 

Sie sah auf, wollte wissen, ob es heute was Besonderes gebe.

 

»Nee. Mathearbeit ist erst morgen.«

 

Im Aufstehen sagte sie: »Ich komm heute später, gehe nach der Arbeit zum Friseur.«

 

»Wieder orange?«, erkundigte sich Tom, der Form halber, wie jedes Mal, wenn sie sagte, sie wolle zum Friseur. Und sie drohte lächelnd mit dem Finger: »Schlingel, dir werd ich …«, dann strich sie über seine Stachelbürste: »Keine Angst, Sohn, nur schneiden.«

 

Tom schüttelte sich und strich sich in entgegengesetzter Richtung übers Haar. »Aber nicht wieder so kurz«, rief er ihr nach, damit er das letzte Wort behielt. Er hörte sie lachen und ihren Mantel rascheln.

 

»Mach’s gut!« Die Tür schlug zu.

 

Es war kurz vor halb acht. Er wickelte die Brote ein und legte sie in die Schulmappe. Gestern Abend hatte er ein bestimmtes Fach im Wohnzimmerschrank untersucht. Jetzt brauchte er den Schrank nur zu öffnen und zuzugreifen. Den kleinen Messingleuchter benutzte sie nie, nicht zu Weihnachten, nicht am Sonntag, nicht mal, wenn ihr Theo sie besuchen kam. Außerdem hätte sie sowieso nichts dagegen gehabt. Aber er musste es heimlich tun, weil sie sonst gefragt hätte und er keine Lust hatte, diese Fragen zu beantworten und dann den Ausdruck in ihrem Gesicht zu sehen. Es ging weder sie noch sonst jemanden etwas an, wem er den Leuchter schenken wollte, und warum.

 

In der Lade im Küchenschrank waren die Kerzen. Er griff nach einer roten. Rot ist die Liebe, fiel ihm ein. Der Kopf wurde ihm heiß, innen und außen. Er ließ die rote Kerze fallen und nahm eine grüne. Grün ist die Hoffnung. Den Leuchter und die grüne Kerze steckte er ins Außenfach der Schulmappe.

 

*

 

In der Nähe der Eingangstür warteten sie aufs Klingeln. Tom blieb stehen, klemmte seine Schulmappe zwischen die Füße, sah sich um und spuckte aus. Susannes Haare flatterten. Sie war wieder umringt. Jeden Tag das gleiche Theater. Alle liebten Susanne. Sie war die Schönste. Sah ein bisschen aus wie im Film, okay. Lachte Susanne, lachten alle. Redeten ihr nach dem Mund. Würden am liebsten reinkriechen in sie.

 

Susanne sollte ihn hier stehen sehen. Sie sollte mitkriegen, dass er kein Hammel war, denn er hatte seinen eigenen Willen. Trotzdem war da die Schnur im Bauch, die ihn ausgerechnet jetzt, als ihm Tanja einen schüchternen Blick zuwarf, zu Susanne ziehen wollte.

 

Er bog die Mundwinkel nach unten und spuckte erneut aus.

 

Tanja sah schon wieder zu ihm. Er kratzte sich am Hinterkopf. Er senkte den Kopf und grinste sich selbst Mut zu. Tanja stand in der Nähe von Susanne, kehrte ihr aber den Rücken zu. Sie war kleiner als Susanne, nicht so dünn und nicht annähernd so super angezogen. Kurze Haare hatte sie, und nicht mal blonde. Beim Bocksprung schaffte sie es nie. Nahm Anlauf und stoppte sich kurz vorm Sprung und verzog den Mund. Und wenn sie lachte, dann lachte niemand mit.

 

Tom bemerkte ein Schimmern in ihrem Gesicht. Die könnte auch mal zum Friseur, schneiden. Er sah weg und schluckte und leckte sich grimmig über die Lippen. Er hob seine Schulmappe an und betastete die Außentasche. Jemand tippte ihm auf den Rücken, Alexander aus der Acht a wollte wissen, ob er wüsste, wo sie den »Glöckner von Notre Dame« spielen.

 

»Frag ’n anderen«, ranzte Tom.

 

*

 

Sein Platz war ganz hinten, er hatte sie alle gut im Blick. Er verkniff es sich, zu Tanja hinzusehen, die drei Tische vor ihm saß, aber er hörte ihre Stimme jetzt deutlicher als Susannes herausforderndes Lachen und das unterwürfige Lachen der anderen, lauter hörte er Tanja als sein eigenes Herz.

 

»Um vier«, sagte sie, »hab ich doch gesagt. Komm pünktlich. Es gibt Eis.« Sie hatte es nicht zu ihm gesagt.

 

Tom atmete tief aus. Mein Nachbar fehlt schon lange, fiel ihm ein, als er seine Schulmappe neben den Tisch stellte. Den müsste ich mal im Krankenhaus besuchen, den Helmut, dachte er und schob den Verschluss auf. In seinen Fingern war ein Gefühl von Helligkeit, im Hals war es dunkel und trocken. Es klingelte, Frau Schur betrat die Klasse und schritt zum Lehrertisch, sie grüßte, sie öffnete den Mund, um ihre Anweisungen zu geben, da hob Tom schnell, ehe er es sich anders überlegte, den Arm.

 

»Ja, Tom?«

 

Tom stand auf. »Ich wollte nur«, sagte er. Mehr brachte er nicht raus. Alle drehten sich zu ihm um, sie verschlangen ihn mit den Augen, auch Susanne mit ihren hübschen, runden.

 

»Ja, und was wolltest du, Tom?«

 

Er bückte sich und griff in die Seitentasche. Er berührte den kühlen kleinen Kerzenleuchter und die Kerze und hatte das Gefühl, beides würde in seiner Hand schmelzen. Als er wieder aufrecht stand, hörte er Flüstern und Kichern.

 

»Jemand hat heute Geburtstag«, sagte er laut und er hob die Hand mit dem Leuchter und der Kerze vor sein Gesicht, als müsste er sich schützen. Tom durchschritt das Klassenzimmer und blieb neben Tanja stehen. Er stellte den feucht gewordenen Leuchter auf ihren Tisch vor ihre Nase und drückte die grüne Kerze in die Öffnung.

 

Tanja wich zurück, bis an die Stuhllehne. Mit einem Blick, schnell wie eine Fliege, hatte er ihr dunkelrotes Gesicht mitgekriegt. Was Helles darin.

 

Streichhölzer hatte er vergessen. Er musste sich jetzt zu seiner Lehrerin umdrehen. Die hatte auch was Helles im Gesicht, tatsächlich. Sie kramte in ihrer Handtasche. Zog ein kleines, glänzendes Feuerzeug heraus, umschloss es mit der Hand, hob die Hand zum Werfen.

 

»Fang!«, rief Frau Schur.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke