… Manchmal versuchte er sich das Verhältnis mit Gina als eine feste Beziehung vorzustellen, doch dann fühlte es sich komischerweise nicht mehr so gut an. Also ließ er es. Einmal fragte er sie, noch ganz erhitzt und wohlig entspannt in ihren Armen liegend:
»Wollen wir noch was zusammen lesen?«
Daraufhin drehte sie ihm wohlig den Rücken zu und antwortete: »Du kannst mir mal die Krümel aus dem Arsch lesen.«
Gina hatte nicht nur außergewöhnlichen Humor, sie konnte auch außergewöhnlich gut küssen. Archie küsste verdammt gerne, allerdings gab es da in der Praxis gravierende Unterschiede. Manche Frauen quirlten mit ihrer Zunge wie ein panischer Ventilator in seinem Mund herum, andere schlugen mit ihr wie das Pendel einer Wanduhr hin und her oder wanden sich wie die Schlange um den Äskulapstab um seine Zunge. Es gab auch Frauen, die stopften ihm ihre Zunge wie einen warmen Kloß in den Mund und warteten gespannt, was er damit anzufangen wüsste. Andere feudelten mit ihrer Zunge wie mit einem Putzlappen seine Mundhöhle und die ganz Harten saugten sich fest, bis sein Kiefergelenk schmerzte. Archie mochte den Kuss voll und weich, schon auch rhythmisch, halt sinnlich, ungefähr so, als würde die Frau ihn mit ihren Schamlippen küssen. Die Zunge, davon war Archie überzeugt, war schließlich die Botschafterin der Begierde und diese sollte sie auch freimütig überbringen. Er musste einen Kuss bis in sein Innerstes spüren. Mehr verlangte er nicht.
Selber hatte er die Kunst des Küssens keineswegs vom ersten Augenblick an beherrscht, sie war ja auch ganz schwer zu vermitteln, keine Volkshochschule lehrte die Kunst des Küssens. Beim Aufklärungsunterricht in der Schule malte der Aufklärer vorrangig Penisse und Scheiden an die Tafel, auch lustige Spermien, vom Kuss jedoch, dem Schrittmacher der Lust, war nie die Rede. Nun, so muss man fairerweise konstatieren, ein Kuss ist kein Organ, also außer im Bild von zwei aufeinander gepressten Lippen grafisch nicht wirklich darzustellen. Den Kuss musste man einfach in der Praxis probieren, und wenn man das Glück hatte, an ein Mädchen zu kommen, die schon wusste, dass man vom Küssen nicht schwanger wurde, dann machte das Training durchaus Spaß. Bis dahin kannte Archie nur die schmatzenden Küsse seiner Mutter und die seiner Tante, die sie ihm immer mit ihrem rosettenförmig gespitzten Mund auf die Wange stempelte. Vor ihren Küssen ekelte er sich.
Ihm erschien anfangs der Weg seines Mundes zum Mund eines Mädchens grenzenlos weit und das Wissen, dass ihr eindeutig bewusst war, dass er jetzt mit der Absicht auf sie zusteuerte, sie zu küssen, empfand er in seiner profanen Zielstrebigkeit als lächerlich, zumal noch lange nicht klar war, ob sie sich überhaupt küssen lassen wollte.
Diese Unsicherheit machte Archie am meisten zu schaffen. Wie peinlich, wenn sie den Kopf einfach wegzog und er mit seinen sehnsüchtigen Lippen ins Leere stieß? Andererseits wollte er diesen magischen Moment auf keinen Fall mit der nüchternen Frage »Darf ich dich küssen?« entzaubern. Es gibt Augenblicke, wo Worte sich vom Projekt ablösen sollten, wo nur noch die Handlung zählt. Aber wie zum Teufel schaffte man es, diese schier endlose Strecke bis zum Ziel kurzweilig zu überbrücken? Im Kino sah das immer perfekt aus. Das Paar schaute sich tief in die Augen und erkannte darin das eindeutige Signal zur Bereitschaft zum Küssen. Wie selbstverständlich brachten die beiden ihre Körper und Köpfe in die ideale Position, drehten sich passgerecht ineinander rein, um sich dann hingebungsvoll mit geschlossenen Augen zu küssen. Manchmal war er sich nicht ganz sicher, ob ihre Münder auch korrekt aufeinanderlagen oder ob sie sich nicht eher das Kinn küssten, wie auch immer, er empfand solche Szenen, speziell in Western, nicht nur lästig, sondern geradezu gefährlich, weil der Mann seiner Meinung nach im feindlichen Indianerland seine Augen besser offen und nicht geschlossen halten sollte. Die Rothäute waren völlig unromantische Typen und hatten wenig Verständnis dafür, wenn sich zwei Bleichgesichter auf ihrem Land küssten, anstatt ordentlich zu schießen.
Bei solchen Szenen brüllten alle Jungs im Kino immer »Pflaster! Pflaster!«, womit sie offensichtlich vermitteln wollten, dass man die Szene überkleben sollte. Eine typische Reaktion verklemmter Kindsköpfe, aber selbstverständlich brüllte er mit, um nicht als lausiger Softie aus der Reihe zu fallen, fand aber »Pflaster« irgendwie nicht sonderlich originell und sich selbst insgeheim verlogen, weil ihn diese Knutschszenen in Wahrheit wahnsinnig interessierten.
Irgendwann war es auch für Archie so weit. Bekannte seiner Eltern besuchten sie an einem Sonntagnachmittag zum ersten Mal bei ihnen zum Kaffeetrinken – und brachten ihre Tochter mit. Mit so einem hübschen Mädchen hatte Archie angesichts des Elternpaares überhaupt nicht gerechnet. Er stocherte mit der Gabel nervös in seinem Käsekuchen herum, starrte verstohlen auf ihren traumhaften Mund und stellte sich vor, was das für ein Gefühl sein müsste, dieses Kunstwerk zu küssen. Nur mal ganz kurz, einfach so, ohne Indianer im Nacken. Sie hingegen wirkte so, als würde sie seine bebenden Sehnsüchte nicht bemerken. Sogar seine Eltern bekamen mit, dass ihr Söhnchen sehr aufgeregt war, und plauderten belangloses Zeug mit Manuelas Eltern, während ihm fast die Kuchengabel aus der Hand rutschte, so schwitzte er. Auf einmal hüstelte seine Mutter und sagte: »Kinder, geht doch mal ein bisschen raus, frische Luft schnappen. Nicht, Frau Bergemann? Mal an die frische Luft, das tut doch immer gut.«
»Aber selbstredend. Kinder, geht doch mal ein bisschen raus auf den Balkon, frische Luft schnappen!«, rief Frau Bergemann.
»Nun aber raus an die frische Luft!«, ermunterte Herr Bergemann, »das kühlt den Kopf!«, und zwinkerte Archies Mutter zu.
Archie fiel zum zweiten Mal in Ohnmacht. Mit Manuela und ihrem herrlichen Mund an die frische Luft? In der Zwischenzeit war es draußen schon dunkel und – obwohl es Ende Oktober war – immer noch ziemlich lau. Er stand auf und folgte steifbeinig Manuela, die bereits forsch aufgestanden war und zur Balkontür ging. Hilfe!
»Aber bleibt ja anständig!«, feixte seine Mutter.
»Hübsch brav bleiben, Kinder!«, rief keckernd sein Vater und Herr Bergemann setzte launig hinzu: »Dass ihr uns keine Schande macht!«, und alle wieherten vor Lachen. Archie war davon überzeugt, dass sie sich unter dem Tisch gegenseitig mit den Füßen anstießen. Dann stand er wackelig mit Manuela allein in der Dunkelheit in der frischen Luft auf dem Balkon und schaute auf die erstaunlich stille Stadt. Er hörte sie atmen und wusste, dass er jetzt irgendwie handeln musste, ihre Erwartung konnte er fast greifen. Er schaute in seiner Verlegenheit zum Himmel und stotterte: »Ää-äh … viel Wolken heute.« Er fand, das war ein durchaus gelungener Einstieg.
Manuela schaute schweigend zum Himmel. Dann sagte sie: »Ach, wie interessant.«
Archie räusperte sich und sagte: »Rächen wärmo griechen.«
Manuela starrte ihn an. »Wie bitte?«, fragte sie. Es klang ein wenig wie: Hast-du-sie-noch-alle? »Griechen?«, fragte sie nach, »was machen Griechen?«
»Nein, höhö, keine Griechen. Rächen wärmo griechen«, wiederholte Archie, leicht verlegen grinsend. Er zog das jetzt durch, komme, was wolle.
»Gibt’s dafür ’ne Übersetzung?«, fragte sie.
»Ist Sächsisch, heißt auf Hochdeutsch: Regen werden wir kriegen. Hahaha.« Sein Lachen klang irgendwie aufgesetzt.
Manuela schaute ihn stumm an. In ihren Augen sah er zwei riesige Fragezeichen schweben.
Er grinste schief und wiederholte: »Na? Re-gen wer-den wir krie-gen! Hm?« Alle seine Kumpels hatten ihm bestätigt, dass er prima Dialekte imitieren konnte, für dieses Talent verfügte er also hinlänglich über Bestätigungen, aber Manuela schien in der Wahrnehmung solcher außerordentlicher Begabungen eher weniger begabt. Doch er war noch nicht am Ende. »Rächen wärmo griechen, bedeutet aber auch? Hm? … Regenwürmer kriechen!« Er lachte laut auf und starrte Manuela erwartungsvoll an. »Regenwürmer kriechen, Rächen wärmo griechen … hahaha.«
Im stumpfen Blick von Manuela zeigte sich ein erstes Signal von Hoffnungslosigkeit. Mit tonloser Stimme und leichtem Ekel fragte sie gedehnt: »Reeegenwürmer kriechen?«
»Regenwürmer, die kriechen – im Rächen …«, würgte er noch ein letztes Mal heraus und beendete dann mit einem finalen Seufzer seinen misslungenen Versuch, witzig zu sein. Er entschloss sich, diese Aktion wie einen geschmacklosen Happen einfach runterzuschlucken, und schaute wieder hoch zum Himmel und dann wieder auf den Boden und dann wieder zum Himmel und dann wieder auf den Boden und dann über den Balkon – und dann bellte ein Hund. Niemals zuvor hatte er sich über dieses Geräusch so gefreut, wie in diesem Augenblick. Endlich konnte er über etwas anderes reden als über sächsische Wortspiele.
»Ein Hund«, sagte er.
»Er bellt«, bestätigte Manuela.
»Ich mag Hunde«, sagte er, um die aufkommende thematische Vielfalt mit dem Geständnis einer persönlichen Vorliebe zu vervollkommnen.
»Ach?«, sagte Manuela. Sie klang jetzt aber irgendwie so, als würde sie an diesem Dialog etwas die Lust verlieren.
Er knetete seine schweißnassen Hände und kämpfte mit seinem bekannten Problem, wie er die endlos weite Strecke zur oralen Seligkeit am geschicktesten überbrücken konnte. Es war ihm klar, wenn er nicht langsam in die Gänge käme, wäre die Chance vertan. Ihre Eltern rechneten ja fest damit, dass sie alsbald aus der frischen Luft in die Wohnung zurückkehren würden. Also haute er tapfer einen Satz raus, der, wie sich danach herausstellen sollte, die entscheidende Bewegung in das Ganze brachte:
»Bellen kann ich auch.«
Er ging fest davon aus, dass sie jetzt von ihm verlangen würde, das zu beweisen. Kein Problem für ihn, Hunde konnte er gut, Katzen nicht ganz so gut. Aber weit gefehlt, sie sagte: »Was kannst du denn sonst noch?«
Wumm! Was kannst du denn sonst noch? Jetzt gab es kein Zurück mehr. Mann, diese Manuela, was für ein freches Stück, dachte er. Sie will es nicht anders. War sich aber noch nicht ganz sicher, ob sie wirklich meinte, was er verstanden hatte.
»Zum Beispiel Fußballspielen«, antwortete er.
Stille. Völlige Stille. Dann fragte sie trocken: »Das ist alles?«
So, dachte er. Jetzt reicht’s aber, echt. Wo sind wir denn? Ob das alles ist? Hör mal, Baby, nun ist die Schonzeit aber vorbei. Du sollst kriegen, was du verdient hast. Also hör mal, ob das alles ist? Archie zeigt dir jetzt, wonach du schon die ganze Zeit bettelst. Er spannte sich innerlich und fragte knallhart:
»Ähm … was meinst du?«
Sie grinste ihn frech an und wiederholte: »Ich fragte, ob das alles ist, was du kannst?«
Archie spürte nun überdeutlich, sie wollte es einfach nicht anders. Er hatte ihr Alternativen angeboten, aber nein, sie ließ nicht locker. Er schaute kurz zum Himmel, kurz auf seine Schuhe und ging sie dann brutal an: »Du stellst ja Fragen.«
Er war noch total gespannt darauf, wie sie mit dieser starken Ansage umgehen würde, da drehte sie sich blitzschnell um und gab ihm einen Kuss. Ihre wundervollen Lippen hatten die seinen berührt! In seinem Kopf drehte sich alles und er drohte umzufallen. Mit den letzten Resten seines Verstandes erkannte er, dass sie ganz offensiv den Anfang gemacht hatte und dass er jetzt darauf reagieren musste. Er presste blitzartig seinen Mund auf ihre heißen, feuchten Lippen, ungefähr so, wie es die Kerle in den Cowboyfilmen in solchen Momenten auch immer taten. Er erkannte sich gar nicht mehr wieder. Er küsste einfach ein Mädchen auf den Mund. Und was für einen. Die Welt stand ehrfürchtig still. Aber wie ging es weiter? Seine Kusstechnik ähnelte eher einem Wiederbelebungsversuch, irgendwie sah das in den Western hinter den Pflastern anders aus. Er grübelte noch, welche entscheidenden Punkte verbessert werden mussten, da spürte er Manuelas warme Zunge. Erst bekam er einen Heidenschreck, weil er annahm, sie hätte die Kontrolle über ihre Körperfunktionen verloren, fand dann aber so großen Gefallen an dieser Technik, dass er sich fragte, warum er auf diese grandiose Idee mit der Zunge nicht selber gekommen war. Zungenkuss war ihm durchaus ein Begriff, er hatte das oft von seinen Kumpels gehört, konnte sich jedoch darunter nie so recht was vorstellen und nachgefragt hatte er auch nicht, weil er dann offenbart hätte, dass er nicht wusste, was genau ein Zungenkuss war. Diese Blamage wollte er sich ersparen. Zungenkuss … Zungenkuss … hm … irgendwas mit Zunge. Und das war er nun, dieser Zungenkuss. Genial, einfach genial. Machte einen Höllenspaß und richtig heiß. Dann hörten sie Schritte aus der Wohnung und lösten sich blitzschnell voneinander.
»Na, ihr Süßen!? Nun kommt mal wieder rein, sonst bekommt ihr noch ’ne Sauerstoffvergiftung«, hörte er plötzlich die schrille Stimme seine Mutter. Daran merkte Archie, dass sie drinnen inzwischen vom Kaffee zum Hochprozentigen gewechselt waren und auffallend gute Laune hatten. Sie gingen beide zurück in die Wohnung, setzten sich wieder an den Tisch und wussten nicht recht, wo sie hinschauen sollten, während Herr Bergemann einen schmutzigen Witz nach dem anderen raushaute und alle fast schrien vor Lachen. Er betrachtete indessen Manuelas wunderschönen Mund, den er eben noch so köstlich geschmeckt hatte, der immer noch so nah und doch so unerreichbar weit weg war.
Wenig später verabschiedeten sich die Bergemanns. Archie gab Manuela ganz brav die Hand und sagte: »Tschüß, Manuela.« Er traute sich nicht, zu ihr »Sehen wir uns mal wieder? Möchte dich unentwegt dumm und dusselig knutschen« zu sagen, weil alle mit großen Ohren zuhörten. Seine Mutter seufzte seltsam verzückt »Selige Jugend« und sein Vater sagte »Auf Wiedersehen und kommt gut nach Hause. War doch ein herrlicher Besuch.« Dabei schielte er zu Archie rüber und alle lachten. Archie bekam einen ganz roten Kopf. Er wunderte sich, dass Herr Bergemann mit der Fahne noch Auto fuhr, sein Vater aber meinte, dass könne der ab, er führe in diesem Zustand sicherheitshalber immer mit offenen Fenstern, deswegen sei seine Frau auch so oft erkältet. Archie schrieb dann Manuela noch heiße Briefe, die jedoch ihre Gegenwart nicht annähernd ersetzen konnten. In ihren Antwortschreiben erzählte sie von ihrer Schule und ihren Problemen in Latein. Archie hatte zugegebenermaßen etwas mehr Herz und weniger schulische Sorgen erwartet, aber offenbar hatte dieser Moment auf dem Balkon sie nicht so nachhaltig aufgewühlt wie ihn. Sie schien offenkundig schon über mehr Erfahrungen zu verfügen, wie ihr frivoler Zungenkuss ihm ja unzweideutig vermittelt hatte. Gesehen hatte er Manuela nie wieder, aber den Geschmack ihrer unvergleichlichen Küsse noch ewig in sich bewahrt.
»Archie? Was is ’n los?«, fragte Gina ihn sanft und schlaftrunken, als er leise in seine Hose stieg.
Es habe eine Idee von ihm Besitz ergriffen, flüsterte er ihr ins Ohr, der er unverzüglich nachgehen müsse – und küsste zärtlich ihre Stirn. Gina murmelte noch leise: »Aber bring mir ja meine Zyklustabelle wieder« und drehte sich mit einem tiefen, entspannten Atemzug auf die andere Seite, wobei für einen kurzen Moment ein betörendes, duftendes Gemisch aus Lust und Erfüllung ihrer Bettdecke entwich.
© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke
Ein mausgrau Uniformierter wies ihn vor den Abfertigungsbaracken in eine akkurat nummerierte Spur ein. Otter hasste diese kranke Grenze und all ihre Grenzorgane. Für ihn waren sie pauschal »Penner«. Er war heilfroh, dass er als Bewohner der »Selbstständigen politischen Einheit West-Berlin« aus realpolitischen Gründen vom Wehrdienst befreit war und sich nicht in Karnevalsklamotten von einem Vorgesetzten herumkommandieren lassen musste, der für ihn außerhalb der militärischen Rangordnung nicht den Hauch einer Chance hätte, seine private Gunst zu erlangen. Otter war Pazifist und antwortete auf die obligatorische Frage, was er denn machen würde, wenn vor seiner Tür eine schwerbewaffnete Bande stehe, die seine Frau missbrauchen, seinen Hund foltern und das Haus brandschatzen würde, dass er nur heilfroh sei, dass er ein gesunder Mensch sei und nicht solche kranken Phantasien habe. Herbert, sein Stiefvater, war allerdings der Ansicht, dass es »dem zarten Herrn Schlange«, der sich aufführen würde wie »Graf Koks von der Gasanstalt«, guttäte, wenn ihm mal »die Hammelbeine langgezogen werden würden«. Er wünschte Otter die Grundausbildung zum Soldaten schon allein deswegen, damit er endlich mal einen vernünftigen Haarschnitt verpasst bekäme. Jeder Millimeter Haar über den Ohren war für Herbert ein Signal völliger Verwahrlosung. »Wir sind doch hier nicht bei den Hottentotten« war sein Standardsatz. Dabei hatte Herbert nicht die geringste Ahnung, wer oder was die Hottentotten waren, für ihn dienten sie als Synonym für ungepflegte Frisuren. Das reichte.
Pauschale Rundumschläge waren typisch für Herbert. Wenn er abends im Unterhemd vor dem Fernseher saß und Filme glotzte, dann brüllte er oft »Amerikanische Scheiße!«, weil ihm »dieses Dreckszeug aus Amerika« missfiel. Ein Land, wo alle Kaugummi kauten und rauchten und ständig Whiskey soffen und riesige Autos fuhren, die Heckflossen hatten wie Pottwale, und vor allem diese grauenvolle »Negermusik« spielten. Herbert liebte Helmut Zacharias, einen permanent schleimig grinsenden Zaubergeiger, und das »Trio Sorrento«, drei kecke Herren, die launige Musik machten. Ein Musiker in solchen Trios, meistens der Mann mit dem Kontrabass, machte in der Regel immer den Spaßvogel – ein typischer Begriff aus der urdeutschen Benennungsskala für Humor – der gemeinhin »kaspert«, »blödelt« oder »Quatsch« macht. Eine Klassifizierung, hart am Befund der Idiotie. Niemals würde ein Deutscher über Beethoven sagen, der Mann sei ein Notengaukler oder ein Gemütsdackel gewesen. Niemals. Und Herbert liebte Filme mit Heinz Rühmann, den am liebsten in seiner kecken Rolle in der Feuerzangenbowle. Den Film hatte er schon gefühlte hundert Mal gesehen und konnte ganze Passagen fließend auswendig, die er auf Familienfesten auf Drängen aller Gäste immer wieder zum Besten gab: Wat is ’n Dampfmaschin’? Da stelle wa uns ma janz dumm. Und alle lachten sich kapott. Bis auf Otter.
»Wie war das eigentlich im Krieg, Rüdiger?«, fragte ihn Otter später mal, als er schon ausgezogen war. Herbert hieß nämlich mit zweitem Namen Rüdiger und konnte diesen Namen nicht ausstehen.
»Du kümmere dich mal um deinen Kram!«
»Es interessiert mich.«
»Ihr Schlappschwänze, was wisst ihr schon vom Krieg?!
Mach erst mal fünfzig Klimmzüge! Auf jeden Fall haben sie uns Ordnung beigebracht, mein Lieber! Ordnung ist das halbe Leben!«, kläffte er.
»Trotzdem suchst du ständig deine Brille.«
© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke