Wie alles begann
Im letzten Jahr war ich zum Geburtstag von Sönke eingeladen und trat mit einem fröhlichen »Hallo, allerseits!« bei ihm ein. Die ersten Gäste saßen oder standen schon mit ihren Aperitifs im Haus
herum. Jan, ein sympathischer, bärtiger Friese, wie immer zünftig im Fischerhemd, saß am großen Tisch mit einem ebensolchen Bier und unterhielt sich mit seinem Nachbarn. Ihm gegenüber war ein
Platz frei. Als ich mich hinsetzte, wurde er meiner gewahr und starrte mich wie paralysiert an. »Peter?«, fragte er mich völlig verdutzt. »Ich glaub es nicht.«
»Ja, ich bin Peter. Peter Glaub-ich-nicht«, antwortete ich launig.
»Hammer!«
»Was meinst du?«, fragte ich ihn leicht verwirrt.
»Ich denke, du bist tot?«
»Davon wüsste ich«, sagte ich und hielt ihm meinen Arm hin. »Fass mal an, ich bin noch voll da.«
»Was die Leute so alles erzählen«, sagte er kopfschüttelnd und betastete glücklich meinen Arm von oben bis unten. »Tatsächlich, du lebst noch.«
»Auferstanden am Geburtstag? Mann, das muss ich mir unbedingt aufschreiben«, sagte ich entflammt, drückte dem Geburtstagskind hastig mein Geschenk in die Hand und verabschiedete mich.
»Du willst doch jetzt nicht etwa schon gehen?«, rief mir Sönke hinterher. »Es gibt Chili con Carne! Das magst du doch!«
»Ich soll angeblich tot sein!«, rief ich zurück. »Die Welt braucht dringend ein Lebenszeichen, ein Buch mit humorvollen Kurzgeschichten von mir! Ich muss, ich muss!«
»Na, du bist ja lustig!«, brüllte Sönke.
»Lustig? Danke, starker Titel!«, antwortete ich begeistert und startete meinen Wagen.
Alle lachten herzlich.
Drehbuch: Das Leben.
Darsteller: Alle.
Das Leben schreibt einfach die besten Geschichten.
Home, sweet home
Ich höre Musik – durchs Telefon klingt sie immer hässlich blechern, außerdem ist sie überhaupt nicht mein Geschmack – dann eine weiche, zugewandte Stimme: »Ich bin deine digitale Assistentin
Clara, was kann ich für dich tun?«
»Blöde Kuh, blöde!«
Stille.
Vergebung, Vergebung, aber wenn ich sauer bin, neige ich zu Ausfälligkeiten, das Vulgäre in mir formuliert dann die Wut. Das bin gar nicht ich. Ich bin grundsätzlich höflich und friedfertig und
will einen anderen Menschen am allerwenigsten beleidigen. Eine lästige Folge meiner konservativen Erziehung, denn Dampf ablassen täte mir manchmal mehr gut, als alles in mich hineinzufressen.
Diese Lösung ist die Keimzelle für alle Wehwehchen und Krankheiten. Aber noch bin ich scheinbar gesund, sagt jedenfalls mein Arzt. Vielleicht auch nur, weil ich Privatpatient bin. Jetzt aber
telefoniere ich mit meinem Stromversorger wegen meines Zählerstandes. Klar könnte ich auch auf seine großartige Homepage gehen, auf die sie uns immer mehr locken, aber die hasse ich noch mehr als
digitale Assistentinnen. Ich möchte einfach nur mit einem echten Homo sapiens sprechen, einem Wesen wie du und ich, das es da draußen schließlich milliardenfach gibt.
Clara hat sich erholt. Sie spricht wieder mit mir. »Ich habe dich nicht richtig verstanden. Kannst du dein Anliegen noch mal äußern?«
Ich sage ruhig und deutlich: »Die kalte Hand am Sack des Bahnsteigwärters!«
Stille.
In der Wut werde ich nicht nur sexistisch, sondern auch phantasievoll, komme so richtig in Form. Leider geht dieses Spiel nicht mehr weiter, denn Clara kann mir nicht mehr folgen, beleidigt ist
sie aber nicht. Das ist das Gute an diesen Robotern. Sie flötet jetzt:
»Leider konnte ich dein Anliegen nicht verstehen, ich leite dich an eine unserer Mitarbeiterinnen weiter.«
»Leb wohl Blumenkohl.«
Stille.
Also verhöhnen tue ich sie auch noch. Ich will diesen therapeutischen Moment einfach genießen. Einen Moment später macht es »Klick« und ich höre eine kräftige, männliche Stimme mit leicht
fremdländischem Akzent: »Mein Name ist Zlatan Dubrownik« (Name aus Datenschutzgründen von mir geändert), »was kann ich für Sie tun?«
Oh? Zlatan siezt mich. Mag ich auch lieber. Ich juble: »Ein Mensch, ein Mensch, endlich ein richtiger Mensch! Ach ist das schön. Wie geht es Ihnen, Herr Dubrownik – geht es Ihnen Herr
Dubrownik?«
Stille. Ich höre ihn atmen. Aber nicht nur das, sondern meine eigene Stimme auch als Echo. Das ist sehr lästig. Er geht auf meine persönliche Frage überhaupt nicht ein, fragt: »Wie kann ich Ihnen
helfen, Herr …ääh?«
»Butschkow, Herr Dubrownik, mein Name ist Peter Butschkow – Peter Butschkow. Sagen Sie, warum höre ich mich eigentlich immer als Echo – immer als Echo?«
»Sie hören sich als Echo?«, fragt Herr Dubrovnik.
»Ja, was ich sage, hallt nach – hallt nach.«
Pause. Es kratzt in der Leitung, dann fragt er: »Jetzt besser?«
»Ich muss erst mal was sagen«, sage ich, lausche meinem Satz nach, und dann: »Wirklich, es ist weg.« Ich hab keine Ahnung, wie er das gemacht hat.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, wiederholt er.
Ich erkläre ihm mein Problem mit der Anmeldung meines Zählerstandes.
Grundsätzlich scheint mir, der Mann sitzt nicht im Büro. Während ich rede, höre ich nämlich in ziemlich regelmäßigen Abständen ein wischendes Geräusch. Es klingt so, als würde jemand eine Wand
verputzen oder streichen. Es stört mich immens, macht mich nervös. Er soll mir konzentriert zuhören und nicht im ausgeleierten Schießer-Feinripp-Unterhemd und vollgekleckerter Cordhose nebenbei
seine Wohnung renovieren und dabei über Headset den Home-Kundenservice für ein Energieunternehmen erledigen.
»Sagen Sie mal, arbeiten Sie da nebenbei?«, frage ich ihn direkt.
»Ich? Nichts, ich rede mit Ihnen«, antwortet er leicht pikiert.
»Ja, aber was wischt denn da andauernd im Hintergrund?«
»Nichts. Also ich höre nichts«, beteuert er, dann herrscht tatsächlich kurzzeitig Ruhe. Kurz danach fängt das Wischen wieder an und nicht nur das, es klingt auch noch dazu so, als würde jemand
mit einem Löffel in einer Kaffeetasse rühren.
»Herr Dubrovnik? Sie verputzen eine Wand oder machen sonst was und trinken nebenbei noch eine Tasse Kaffee? Und das alles während eines Kundengespräches – während eines Kundengespräches?«
Das Echo ist auch wieder da. Was geht da am Ende der Leitung eigentlich vor? Ich bin von der ganzen Unruhe total genervt und habe langsam die Schnauze voll. »Renovieren Sie gerade nebenbei Ihr
Bad oder den Flur, oder was – oder was?«
Er geht jetzt gar nicht mehr auf meine Nachfrage ein, stellt sich einfach stur. »Geben Sie mir doch bitte zum Abgleich Ihr Geburtsdatum«, sagt er, während er parallel weiter einfach seine Wohnung
renoviert.
»Herrn Dubrovnik, diese Nebengeräusche, so geht das nicht. Bitte verbinden Sie mich unverzüglich mit einem anderen Mitarbeiter – einem anderen Mitarbeiter.«
»Wie Sie mögen«, antwortet er beleidigt. »Ich verbinde.«
Ich höre ein paar Minuten Musik und dann eine weibliche Stimme: »Mein Name ist Svetlana Sukowa (Name aus Datenschutzgründen geändert), was kann ich für Sie tun?«
»Frau Sukowa, schön dass ich endlich jemanden gefunden habe, der mir zuhört.«
»Sehr gern, Herr Wuschkoff. Bitte geben Sie mir doch erst mal Ihre Kundennummer.«
Während ich ihr meine Kundennummer vorlese, vernehme ich plötzlich in unserer Verbindung ein Nebengeräusch, bei dem ich mir absolut sicher bin, dass ich es eindeutig zuordnen kann. Ich
unterbreche die Schilderung meines Sachverhaltes und frage abrupt: »Hallo?«
»Ja?«
»Sagen Sie mal, rasieren Sie sich etwa, während Sie mit mir telefonieren?«
Das weiße Sofa
Es wäre nicht zu viel der Ehre, wenn man Herrn und Frau Hagedorn für ihre einzigartige Leistung ausgezeichnet hätte, dass sie es geschafft hatten, ihr Lieblingsmöbel, ein schneeweißes Ledersofa,
in den Jahren der Aufzucht ihrer zwei putzmunteren Söhne vor deren Zerstörungsdrang zu schützen. Natürlich hatten sie den beiden immer wieder und wieder mit Höchststrafen gedroht, falls dem
weißen Sofa auch nur der kleinste Fleck oder Kratzer zugefügt werden würde. Das zeigte Wirkung. Tatsächlich genoss das Sofa Sonderstatus und stand in seiner makellosen Ästhetik, auch als Denkmal
gelungener Erziehung, rechts und links bewacht von zwei dekorativen Yucca-Palmen mitten im Wohnzimmer der Hagedorns. Gäste erhielten persönlich von Frau Hagedorn diskrete Hinweise, wie sie sich
diesem Heiligtum zu nähern hatten. Sogar Herr Hagedorn durfte es nicht wagen, noch nicht mal daran denken, sich, wenn er aus seiner Hobbywerkstatt kam, mit einer schmutzigen Hose auf dieses
Schmuckstück zu setzen. Für jeden Neuling, der sich allgemein für Wohnkultur interessierte, hielt Frau Hagedorn ein längeres Referat über den Wert und die Pflege edler Möbel, über italienisches
Möbel-Design, über die ausufernde Verbreitung der Geschmacklosigkeit in der Gesellschaft im Besonderen und erläuterte auf Wunsch auch die lückenlose Chronologie ihrer Entscheidungsfindung zum
Erwerb des weißen Sitzleders. Tatsächlich war es dem jüngsten Sohn mal passiert, dass ihm ein Stück Schokolade in die Sofaritze gefallen war, was er nicht bemerkte. Wohl aber Mutter Hagedorn. Sie
brauchte Wochen, um ihm das zu verzeihen. Die Zeit dazwischen litten alle unter ihrer instabilen Laune.
Bei aller erzieherischen Härte besaß Frau Hagedorn auch eine Riesenportion Mutterliebe. Sonderwünsche ihrer beiden Söhne mochte sie nur schweren Herzens ablehnen, und so stand sie deren Begehren,
einige ihrer besten Freunde zu ihnen nach Hause einladen zu dürfen, wohlwollend gegenüber. In all den Jahren mit ihren beiden Zöglingen hatte sie sich im dörflichen Kreis den Ruhm erworben, eine
Mutter zu sein, die bei Kindergeburtstagen einen enormen Einfallsreichtum entfaltete. Aber mit diesem Anspruch war sie nicht alleine. Unter den Müttern fand ständig ein stiller Wettbewerb um die
kreativste Ausrichtung eines Kindergeburtstages statt. Die Inszenierungen sollte alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen, die elterliche Konkurrenz beschämen, die kleinen Gäste bis ins
hohe Alter von diesem Fest schwärmen lassen und ihnen noch auf dem Sterbebett ein süßes Lächeln der Erinnerung ins blutleere Gesicht zaubern. Längst hatten findige Geschäftsleute eine Marktlücke
entdeckt und boten im Netz Event-Packungen für exakt solche Gelegenheiten an. Komplette Ausstattungen für Piratengeburtstage, Zaubergeburtstage, Horrorgeburtstage, Weltraumgeburtstage,
Märchengeburtstage, also alles, womit man eine aufgekratzte Meute von Kindern zum Toben und Kreischen bringen konnte. Ganz zur Freude der glücklichen Eltern, die allen kleinen Gästen zum Abschied
noch eine kleine Süßigkeit mit auf den Heimweg gaben, um sich dann völlig erschöpft, aber glücklich in die Arme zu fallen. Frau Hagedorn hatte bei so einer Veranstaltung schwer gepunktet, als sie
den Kleinen mit Helium gefüllte Luftballons in die Hand drückte, denen sie handgeschriebene Karten mit einer Botschaft an die Welt anhängen und sie im Garten fliegen lassen konnten. Frau Hagedorn
begleitete diese Aktion jauchzend: »Fliegt, fliegt zur Sonne Afrikas!« oder »Für die lieben Eisbären in Alaska!«. Scheinbar ging sie davon aus, dass Sonnen und Eisbären lesen konnten. Je nach
Wetterlage verteilten sich die bunten Ballons mal zügig, mal träge am Himmel und entzogen sich letztlich alle als stecknadelgroße Punkte den Blicken der begeisterten Kinderschar. Man traute
diesen Flugobjekten durchaus eine interkontinentale Reise zu. Ein Luftballon hatte es dann doch nicht ganz bis Afrika geschafft und landete im Garten eines jungen Bauern, gleich zwei Dörfer
weiter. Als der wegen der Zettelbotschaft »Ich will ein Kind von dir« und der Adressenangabe neugierig bei den Eltern der sechsjährigen Emma anrief, bekam er Besuch von der Polizei. Zum Glück
klärte sich alles als ein übermütiger Streich eines internetverdorbenen Kleinkindes auf.
Die Metamorphose ihrer Kleinen zu Erwachsenen nehmen liebende Mütter grundsätzlich eher unwillig wahr. In dieser verzögerten Wahrnehmung verstand Frau Hagedorn eines Tages den Wunsch ihrer
pubertierenden Söhne, bei ihnen zu Hause eine Party zu feiern, offenbar noch als etwas mit Sackhüpfen und bunten Ballons, und es verstörte sie doch ein wenig, als sich am Abend des Ereignistages
eine Schlange hochgewachsener, haariger, junger Männer durch ihre Haustür schob und in tiefer Stimmlage freundlich »Tach, Frau Hagedorn!« brummte. Sie hatte da wohl eine Entwicklungsstufe
verschlafen. Mein Gott, es geht alles so schnell, dachte sie. Hagedorns verließen gegen 20 Uhr das Haus, um Freunde zu besuchen und bei denen zu übernachten, um ihren Kindern bei ihrer
Festlichkeit nicht im Wege zu stehen. »Schließlich waren wir selber ja auch mal jung«, hatte Frau Hagedorn augenzwinkernd bemerkt und zum Abschied mit dem Satz »Habt ein wenig ein Auge auf das
weiße Sofa«, das sie vorsichtshalber mit einem Absperrband vor der Nutzung Unbefugter gesichert hatte, ihren beiden Söhnen die Verantwortung für das kostbare Möbel übertragen. Herr Hagedorn hatte
in seiner knappen Art noch kurz mit erhobenem Zeigefinger »Und keinen Unsinn« hinzugefügt. Das »Keine Sorge, wir passen auf« ihrer Söhne ließ sie mit einem »Na, dann viel Spaß!« beruhigt das Haus
verlassen
Die ersten Ankommenden überprüften zuerst das Vorhandensein ausreichender alkoholischer Stimmungsbeschleuniger und nahmen dann Besitz vom Anwesen mit all seinen Einrichtungselementen, speziell
solcher, die Bequemlichkeit versprachen. Allergrößte Begeisterung bereitete ihnen unzweifelhaft das weiße Ledersofa, welches sich hinter dem rotweißen Band respektheischend ihrer Nutzung entzog.
Sie umkreisten es im Laufe des Abends wie ein Wolfsrudel das Reh und mit steigendem Promillepegel brachen sich in der Meute mehr und mehr die altersbedingen Gelüste nach Zerstörung bürgerlicher
Symbole und deren Diktaten Bahn. Dafür schien das piekfeine Sofa in seiner spießigen Empfindsamkeit das ideale Opfer. Alle anfänglichen Versuche der Hagedornsöhne, das drohende Unheil abzuwenden,
verloren mit jedem ihrer Drinks an Kraft, letztlich nahmen auch sie ihren naturgegebenen Platz im Kreis ihrer artgerechten Freunde ein, wobei ihnen ja noch die Option offenstand, sich später vor
ihren Eltern gegenseitig zu bezichtigen, so, wie sie es bisher immer getan hatten, wenn es bei negativen Vorfällen um Fragen von Schuld und Sühne ging.
Gegen Mitternacht durchtrennte ein mutiger Kumpel mit der Haushaltsschere in einer launigen Zeremonie symbolisch das lächerliche Absperrband und gab damit das Möbel für die Partygesellschaft
frei. Grölend lümmelten sich die Gäste wie beutegeile Vandalen auf dem Schmuckstück herum und probierten die verrücktesten Sitzpositionen aus. Dabei beschmutzten sie das Teil mit Ketchup, Senf,
Asche, Cola und Bier, bohrten mit ihren Zigaretten Löcher hinein, schrieben mit Kugelschreibern Parolen drauf und »verfugten« – wie sie es nannten – die Sofaritzen mit Reste von Fritten und
Bouletten. Besonders viel Spaß hatten sie bei dem Versuch zu testen, wie viel Menschen so ein Sitzmöbel zu tragen vermochte. Bei zwölf Personen brachen dem Sofa die Füße weg. Mann, war da eine
Stimmung. Irgendeiner hatte es dann in früher Stunde geschafft, sich über das inzwischen restlos versaute Prachtstück großflächig zu erbrechen. Dieses Objekt Sofa hätte auf der Documenta in
Kassel in der Kunstwelt für Furore gesorgt.
Erfahrene Eltern hatten später Frau Hagedorn gefragt, ob sie nicht gewusst habe, dass man Jugendlichen für eine Party niemals das eigene Haus zur Verfügung stellen dürfe, und schon mal gar nicht
ein hochempfindliches weißes Sofa? Ja, dass das eine Provokation sei, der sich kein körperlich und geistig gesunder junger Mensch entziehen könne und die Täter sogar vom Bundesgerichtshof
freigesprochen werden würden, weil die freiheitliche und individuelle Entwicklung eines jungen Menschen, der gradewegs seinen Weg in die Gesellschaft suchte, um alsbald zu ihrem demokratischen
Mitglied zu reifen, von primärer Bedeutung sei. Kurz gesagt, die gesunde Sozialisierung einer Persönlichkeit hatte absolute Priorität vor dem Schutz eines leblosen Sitzmöbels.
Der Anblick des Wohnzimmers, der sich am nächsten Vormittag den Hagedorns nach ihrer Rückkehr bot, war nicht zu beschreiben. Angesichts des Fiaskos, explizit ihres geliebten Sofas, erstarb in
Frau Hagedorn jede Lebensfreude. Sie war wie paralysiert. Ihre Söhne, die wegen ihres massiven Alkoholkonsums auf »Nicht schuldig« plädiert hatten, verwiesen wiederum auf die unkontrollierbaren
Umstände und das Gesetz der Masse und machten ihrer Mutter zudem den Vorwurf, dass ohne ihr provozierendes Absperrband alles anders verlaufen wäre. Für einige Zeit herrschte im Hause Hagedorn
finstere Stimmung. Die änderte sich merklich, als eines Tages bei ihnen ein Möbelwagen vorfuhr und ein nagelneues, schneeweißes Sofa entladen wurde. Das alte war natürlich nicht mehr zu retten
gewesen und auf dem Sperrmüll gelandet. Angesichts dieses neuen Möbels, dessen Weiß Frau Hagedorn sogar noch eine Spur reiner als das des alten erschien, verbesserte sich ihre Stimmung rapide.
Die wiederum erfuhr eine kurze Störung, als ihre beiden Söhne mit der Bitte an sie herantraten, nun, nach so langer Zeit der Reue und Buße, noch mal ein paar Freunde einladen zu dürfen, auch um
den Ruf ihrer Familie wiederherzustellen, die langsam ob ihrer lange währenden Ungastlichkeit in die Kritik geraten war. Nach kurzer Schnappatmung fing sich Frau Hagedorn wieder. Die nackte Angst
um ihr neues Sofa rang wie immer mit der Liebe zu ihren Söhnen, am Ende gewann, wie zu erwarten, ihr großes Mutterherz und ihre Fähigkeit zur Vergebung. Also gewährte sie die Bitte, jedoch nur
unter der Bedingung, dass das weiße Sofa an dem Abend in Sicherheit, heißt auf den Dachboden, verbracht werden musste. Die Söhne waren sofort einverstanden. Am Vormittag des Tages, an dem die
Party stattfinden würde, trugen sie das Sofa ins Dachgeschoss, hüllten es sorgfältig in zwei Decken und erfüllten damit die mütterlichen Bedingungen. Hagedorns machten sich am frühen Abend vor
dem Eintreffen der Gäste mit einem guten Gefühl wieder auf den Weg zu ihren Freunden, nicht ohne ihren beiden Söhnen noch ein »Ihr wisst ja? Schön brav sein!« zu hinterlassen.
Kurze Zeit später rollte die Meute an. Wie immer kochte die Stimmung hoch und dieser und jener, der sich noch an die letzte, grandiose Party erinnern konnte, erkundigte sich nebenbei, wo denn
eigentlich das weiße Schmuckstück vom letzten Mal hingekommen sei? Die Brüder erzählten von seinem traurigen Schicksal, aber auch ihrer Erleichterung, dass ihre Mutter mit dem Kauf eines neuen
Sofas wieder ihre Lebensfreude zurückerlangt hatte. Das Objekt stünde nun wohl verwahrt im Dachgeschoss und für den heutigen Abend leider nicht zur Verfügung. Diese Information sprach sich unter
den Gästen schnell herum und sorgte für Freude. Der Abend nahm nun ordentlich Fahrt auf, die Lautsprecher dröhnten, die Mädels kreischten, die Kerle stießen ihre Brunftlaute aus, alle tanzten wie
losgelassen und der Rest lümmelte irgendwo auf den Teppichen und in den Ecken herum, quatschte oder grölte einfach mit. Auch die beiden Hagedornbrüder waren verdammt gut drauf und verschmolzen
völlig im Rudel der fröhlich Enthemmten. Eine echt gelungene Party.
Wer von den beiden Brüdern zuerst der Szene gewahr wurde, darüber stritten sie sich später vor dem elterlichen Tribunal, aber Tatsache war, dass sie angesichts dieser Szene in Schockstarre
verfallen waren: Vier ihrer völlig besoffenen Freunde wuchteten schwitzend und johlend ein schneeweißes Sofa die Treppe herunter.
Haar-Netz
Svenja riet mir, es mal mit Eigenurin zu versuchen, aber dazu komme ich später. Mir geht es dabei nicht um die großen Fragen des Lebens, sondern um die kleinen, um die winzigen Meteoriten, die
täglich ganz unspektakulär in uns einschlagen und uns arg quälen können. Profane Fragen zu scheinbaren Banalitäten: Mit wie viel Grad wäscht man ein Mousepad? Wie bekommt man Blattläuse aus dem
Kopierpapier? Solche Fragen, meine ich.
Mein akuter Fall war eigentlich auch nur ein albernes Problem, es ging um meine Haarbürste. Nach längerer Verwendung hatte ich nämlich festgestellt, dass sich mit der Zeit am Fuß der einzelnen
Borsten ein winziges Gewölle aus feinen Haaren und Talg gebildet hatte. Nicht schlimm, aber nicht schön. Gut geeignet, um bei Gästen, die ja zu gerne in fremden Bädern heimlich die Kosmetika und
Pflegemittel studieren, neuerdings sogar mit ihrem Handy fotografieren und am nächsten Morgen ins Netz stellen, in den Ruf zu geraten, man sei eine alte Sau. »Schaut euch mal seine Haarbürste
an.«
Ich wollte, auch wenn ich in meinem Umfeld schon als eigenwillig galt, wenigstens im kosmetischen Bereich einen guten Eindruck hinterlassen. Der Kauf einer neuen Haarbürste, nur wegen kleiner
Gebrauchsspuren, schien mir jedoch übertrieben. Nicht weil ich geizig bin, ganz im Gegenteil, sondern weil ich bislang als erwecktes Mitglied unserer Wegwerfgesellschaft ein Zeichen der
Verantwortung und des Umweltbewusstseins setzen wollte. Die Reinigung indessen gestaltete sich erheblich schwerer, als ich es für möglich hielt, bei jeder Borste musste das klebrige Gewölle
mühsam abgefieselt werden und das bei gut hundertvierzig Borsten. Schlagartig überfällt mich bei solchen Aufgaben eine lähmende Müdigkeit, eine Schutzreaktion auf meine Ungeduld, denn Ungeduld
ist die Schwachstelle in meiner ansonsten gefällig ausgeformten Persönlichkeit. Dieses Defizit hat mich schon ein Haufen Geld gekostet. Zerstörte Geräte, die Opfer meiner Wutattacken wurden, weil
ich Tintenkartuschen bei dem Versuch sie auszutauschen in das Gerät gehämmert habe. Parkhausschlagbäume, in deren Öffnungsautomaten ich den Parkschein mit Gewalt hämmerte und damit das ganze
Parkhaus stilllegte. Nichts ging mehr. In technischen Belangen fehlt mir also der praktische Daumen. Kurz vor dem Zertrampeln meiner Haarbürste fiel mir gerade noch haarscharf eine der größten
Errungenschaften der neuen Zeit ein: das Internet! In diesem digitalen Termitenhaufen hatte ich schon oft gute Ratschläge gelesen, wobei ich allerdings allen Hypochondern dringend davon abraten
möchte, sich in medizinischen Fragen durchzugoogeln. Danach wird alles nur viel, viel schlimmer. Man glaubt nicht, woran Menschen alles leiden, wie ausschweifend sie darüber schreiben können und
auf welch verrückte Lösungen sie kommen.
Irgendwann hatte ich auch mal was mit meinem Trommelfell, allerdings von meinem Schlagzeug, und stöberte im Netz nach Tipps, wie man es am besten neu bespannt.
Ein Trommler schrieb, dass man das beste Ergebnis erzielen würde, wenn man die Felle zwischen Februar und März bespannen würde, weil da der Einfluss der kosmischen Strahlung auf den
Dehnungsfaktor der Schlagoberfläche am idealsten sei. Einer empfahl, vor dem Aufsetzen des Fells auf den Trommelkessel den Rand mit Butter einzuschmieren. Da ich schon seit Jahren keine Butter
mehr esse, fragte ich nach, ob es mit halbfetter Margarine oder vegetarischem Zwiebelschmalz auch funktionieren würde, bekam aber keine Antwort. Ein anderer schlief, bevor er seine Kessel neu
bespannte, eine Nacht auf der kompletten Trommelfellgarnitur.
Hier nun also, aus diesem digitalen, globalen Wissensschatz, wollte ich den ultimativen Hinweis erhalten, wie man so effektiv und rationell wie möglich mit optimalem Ergebnis unsaubere
Haarbürstenborstenböden reinigen kann. Ich war mir sicher, ich würde fündig werden, Erleuchtung erfahren und mein Reinigungsproblem bis zum ultimativen Haarausfall lösen. Ich gab bei Google den
Suchbegriff »Reinigung von Haarbürsten« ein, sicherheitshalber stellte ich meine Frage noch mal im geschliffenen Englisch: »How to clean a hairbrush?«, um auch den Rest der Welt mit
einzubeziehen, denn vielleicht hatte eine US-amerikanischer Westküsten-Frisörin eine gute Idee? In Sekundenschnelle erhielt ich Antworten. Ich war schwer beeindruckt, mit wie vielen Menschen ich
dieses Problem teilte. Dieses Bewusstsein, mit seinen Sorgen und Fragen auf der Welt nicht alleine zu sein, ist für mich immer wieder eine der faszinierenden Botschaften des digitalen Netzes,
vermittelt mir aber auch ein wenig von der deprimierenden Erkenntnis, dass man ganz und gar nichts Besonderes ist. Da war früher doch ganz anderer Raum für Illusionen. Ein Typ erläuterte
ausschweifend, wie alle seine Versuche versagten, seine Haarbürste zu reinigen, er sehr verzweifelt war und schrie und tobte und seine ganze Familie unter seiner miesen Laune litt. Eine Griechin
riet, es doch mit Ziegenmilch zu versuchen. »Put the hairbrush over twentyfife hours in goatmilk and suddenly it was easy, to clean the hairbrush. Good luck!« Meine Haarbürste, blitzsauber aber
durchtränkt von säuerlicher Ziegenmilch? Pfuideibel! JoBob schrieb zu dem Thema, er hätte es mit Kaugummi probiert und großartigen Erfolg gehabt. Einen weichgekauten Kaugummi um die Borstenböden
kleben und dann vorsichtig abziehen, sodass Kaugummi und Haarreste sich gemeinsam lösten. Wie eklig ist das denn? Ich fing ich an, mir Sorgen um die Hygiene von JoBob zu machen. »PussyMegan«
empfahl, die Bürste mit Zahnpasta vollzuschmieren und über Nacht einwirken zu lassen, am nächsten Tag könne man die ungeliebten Partikel locker ausschütteln. Auch PussyMegan gab mir Anlass zu
größter Besorgnis. »Redfox« hatte, so schrieb sie, vollen Erfolg mit einer Mond-Essig-Therapie. Sie hatte die Haarbürste in einer Mischung aus 50% Essig und 50% abgekochtem Regenwasser gebadet,
bei Vollmond unter einen Ginsterstrauch gestellt, über Nacht einwirken lassen und dabei jede volle Stunde Reinigungsformeln gemurmelt. Am nächsten Tag sei die Bürste wie neu gewesen. Das klang
beeindruckend, war mir aber deutlich zu aufwendig, außerdem wäre ich gesellschaftlich erledigt, wenn mich jemand dabei beobachten würde. »Sina« meinte, ich soll mir mal öfters die Haare waschen.
So beantworten also sensible Frauen die Fragen eines verzweifelten Mannes. Vielen Dank dafür.
Auch eine Pferdeflüsterin war dabei, »ANNAzone«, sie hatte dasselbe Problem mit einer Striegelbürste gehabt und es mit dem rotierenden Bürstenkopf einer elektrischen Zahnbürste versucht. Bürste
gegen Bürste. Angeblich, so ANNAzone, hätte sie das Ergebnis zufriedengestellt. Für mich aber war das keine Lösung, letztlich muss ich ja mit dieser Methode auch jede Borste einzeln reinigen.
ANNAzone hatte mich nicht verstanden. Sehr solide erschien mir die positive Erfahrung von Danny, die ihre Bürste zwei Tage in eine Spülmittellauge legte, woraufhin sich die störenden Stoffe
danach »butterweich ablösen lassen«. Das versuchte ich, mit dem Erfolg, dass sich danach die Haare gar nicht mehr aus der Umklammerung lösen wollten und der Bürstenkörper unter der Behandlung
litt. Nichts löste sich also butterweich auf, außer der Tipp von Danny. Auch Svenjas Lösung mit der Eigenurinbehandlung war mit mir nicht zu machen. Ich stehe meinen Körperflüssigkeiten mit
Respekt, aber auch mit einer gewissen Diskretion gegenüber. Es finde es schamlos, wie manche Menschen ihren Körper ausbeuteten. Von »Globalfinger27X« erfuhr ich, dass er es mit einer Mixtur aus
Salzsäure und Domestos versucht hatte und die Bürste sich am nächsten Morgen komplett dematerialisiert hatte. So geht’s also auch.
Meine Haarbürste starrte mich nun jeden Morgen an, als wolle sie mich fragen: »Und nun? Was machen wir nun?« Da erinnerte ich mich an einen Vorschlag von »Clara&Carla«, der mir gleich
gefallen hatte. »Die Bürste mit Rasierschaum vollsprühen und zwölf Stunden ziehen lassen«, meinten sie. Frauen, die auf Rasierschaum schworen, das wäre früher doch undenkbar gewesen. Als
Nassrasierer hat mich diese Idee sofort überzeugt, Rasierschaum hatte ich reichlich, also sprühte ich meine Haarbürste damit ein und ließ Schaum und Bürste ein paar Stunden miteinander arbeiten.
Das Ergebnis war total unbefriedigend. Ich postete dann in die Haarbürstenborstenreinigungscommunity: »Kauft euch einen verdammten Kamm.« Die witzigste Reaktion kam von JolliJoke: »I will kamm.«
Zum Totlachen
Ich scheue mich, es ihnen ins Gesicht zu sagen, aber sie haben sich verändert. Wenn ich sie früher besuchte, sprachen wir über alles, nur nicht über Krankheiten. Die hatten wir nicht oder sie
spielten keine Rolle, weil die Lebensfreude einfach dominanter war. Heute liegen bei ihnen Salben und Säfte herum, in den Schubladen wimmelt es von Medikamenten und auf der Vitrine, wo früher der
Aschenbecher stand, steht jetzt das Blutdruckmessgerät. Sie lesen mir ihre neuesten Blutwerte vor, wir sichten Röntgenaufnahmen und EKGs, blättern in ihren Rezept-Sammelalben und reden ausgiebig
über Knochendichte und spröde Gelenke. Ich weiß nun auch endlich, was sie nicht mehr essen und trinken oder vergessen und zu welchem Arzt sie gerne oder weniger gerne gehen. Sie konkurrieren
förmlich miteinander.
Prahlt er mit seiner Arteriosklerose, wirft sie ihre Osteoporose in den Ring, gibt sie stolz an, vier Mal nachts auf die Toilette zu gehen, geht er fünf Mal. Sie zeigen mir dann ihre neuesten
Beckenbodenübungen und was man alles gegen Verstopfung tun kann. Er brüstet sich mit seinen Rückenübungen und seinen dreißig Liegestützen. Wir sehen gemeinsam Videos von ihren liebsten
Physiotherapeuten und über das Wunder der Nahrungsergänzungsmittel. Habe ich endlich alles über ihren Gesundheitszustand erfahren, gehen wir die neuesten Herzinfarkte, Hirnschläge und
Schlaganfälle in ihrem Umfeld und Bekanntenkreis durch. In der Regel sind auch immer zwei oder drei völlig unerwartete Todesfälle dabei. Meinen zaghaften Versuch, ihnen von meinem steifen Nacken
zu erzählen, kontern sie mit ihren kaputten Hüften. Am Ende meines Besuches spazieren wir immer noch ein bisschen über den nahegelegenen Friedhof und besichtigen ihre zukünftige Grabstelle.
Letztes Mal baten sie mich um Beratung in Sachen Inschrift. Ich schlug ihnen »Ohne Beschwerden« vor. Sie wollten das noch mit ihrem Sterbeberater diskutieren.