Leseprobe aus dem Roman "Fremde Leute"

eine um um einen Text im Anhang ergänzte Neuausgabe erscheint im Früjahrsprogramm 2025

Fremde Leute

 

Meine Mutter zog abends, wenn sie schlafen ging, den Vorhang schon auf. Dann konnte sie schlafen, solange sie wollte. Das ging keinen was an.

 

Als sie klingelte, wussten wir noch nicht, dass sie es war. Sie wohnte am anderen Ende der Stadt. In einem eigenen Haus. Wir wohnten auf dem Berg, in einer Straße, in der die Häuser sechs Wohnungen hatten und sechs Balkone. Wir hatten die Wohnung im ersten Stock links. Und die hatten wir, weil mein Vater Beamter war. Es war eine Beamtenwohnung.

 

Stand da und klingelte, frech. Sagte meine Mutter. Als sie schon wusste, dass sie es war. Es waren Ferien. Wir hatten noch geschlafen, die Vorhänge offen. Meine Mutter hatte gleich ge­sagt: Wir melden uns einfach nicht. Wir waren im Bett ge­blieben.

 

Ich schlief mit meiner Mutter im Doppelbett. Ich links und sie rechts. Vorher hatte mein Vater links geschlafen. Das Schlafzimmer war ein Meisterstück. Wurzelholz, poliert. Die Lampe war eine zarte Schale mit Apfelblüten. Wenn ich im Bett lag, habe ich immer auf diese blassroten Apfelblüten gesehen.

 

Mein Vater schlief in meinem Kinderzimmer. Ich hatte kein Kinderzimmer mehr. Ich hatte es nur kurz. Dann war mein Vater in mein Kinderzimmer gezogen. Aber es hieß immer noch: das Kinderzimmer. All die Jahre lang. Bis ich groß war und ausge­zogen bin. Auch danach hieß es noch: das Kinderzimmer.

 

Sie klingelte. Wir wussten noch nicht, dass sie es war. Sie war meine beste Freundin, in der Schule. Dass sie Dagmar hieß, passte zu ihr. Es klang vornehm. Ihr Vater war Zahnarzt. Und sie hatte einige Sachen, die ich nicht hatte. Zum Beispiel Fenstertiere aus Plastikfolie in verschiedenen Farben, die man abziehen und woanders wieder hinkleben konnte.

 

Sie klingelte. Meine Mutter stieg aus dem Bett und schlich zur Tür. Sie drückte die Türklinke herunter, fast ohne Ge­räusch. Und sah vorsichtig um die Ecke. Unsere Wohnungstür, sie hieß: die Entreetür, hatte in der Mitte Glas, längsgestreiftes Glas und einen gespannten Vorhang. Aber man konnte trotzdem etwas sehen.

 

Sie klingelte. Und fing an zu rufen, nach mir. Da wussten wir, dass sie es war. Und dass sie mit mir spielen wollte, den ganzen Tag. Es waren Ferien. Und dass ihr Vater sie hochgefah­ren hatte. Und dass er den Berg wieder runtergefahren war.

 

Meine Mutter sagte: Wir machen einfach nicht auf. Dann geht sie schon wieder. Meine Mutter wollte nicht, dass jemand wusste, dass sie noch im Nachthemd war. Meine Mutter wollte nicht, dass jemand etwas von uns wusste. Meine Mutter hatte nicht gern fremde Leute im Haus. Mein Vater auch nicht. Zu mir kamen keine Kinder. Sie wussten das.

 

Sie klingelte. Sie ging nicht wieder. Sie blieb einfach ste­hen, vor unserer Tür. Vielleicht hatte sie sich hingehockt. Sie wollte einfach nicht den ganzen Berg wieder runterlaufen. Sie klopfte, an die Tür. Sie klingelte, ganz lange.

 

Meine Mutter wollte in die Stadt. Sie ging gern in die Stadt, einkaufen. Diesen Vormittag wollte sie in die Stadt. Sie fing an, sich anzuziehen, leise. Ich zog mich auch an. Sie öffnete langsam, fast ohne Geräusch, die Schlafzimmertür, duck dich! und kroch, so flach wie möglich, über den Flur, ins Badezimmer. Ganz langsam. Fast ohne ein Geräusch zu machen. Ich kroch hin­terher.

 

Wir ließen das Wasser nur ganz dünn laufen. Zum Gesichtwaschen, Zähneputzen. Dann krochen wir wieder zurück, ins Schlafzimmer.

 

Meine Mutter saß auf dem Bett. Wir können jetzt nicht mehr aufmachen! Sie klingelte. Die Abstände wurden größer. Sie klingelte nicht mehr.

 

Wir saßen beide auf dem Bett. Wenn wir jetzt nicht gehen, brauchen wir gar nicht mehr zu gehen! Meine Mutter wollte in die Stadt.

 

Meine Mutter stand im Flur, an der Garderobe. Sie hatte den Schlüssel in der Hand, ihre Tasche. Sie machte die Entreetür auf. Wir gingen durch die offene Tür. Es roch wie sonst auch. Die geputzte Steintreppe, das glatt schwarze Geländer. An der Seite stand Dagmar. Wir gingen an ihr vorbei. Die Treppe run­ter. Die Haustür schlug immer von alleine zu.

 

Doppeladler

 

 Ich lag mit meinem Vater in seinem Bett. Ich lag gern mit meinem Vater in seinem Bett. Als es noch sein Bett war. Heirate du doch deinen Vater, sagte meine Mutter immer. Wenn sie nicht sagte: du und dein Vater.

 

Ich lag in seinem Arm und sein Arm war schwarz. So schwarz wie seine Brust, seine Schultern, seine Beine. Mein Vater hatte ein schönes schwarzes Fell, und es war ganz weich. Wahrscheinlich war es von dem Fell auch so schön warm in sei­nem Arm.

 

Es war Sonntagmorgen. Ich lag mit meinem Vater in seinem Bett, und wir spielten: Ich sehe was, was du nicht siehst. Meine Mutter sahen wir nicht. Sie lag in ihrem Bett. Oder war schon aufgestanden.

 

Wir sahen das blasse Rot der Apfelblüten auf der Lampe über uns. Wir sahen das Silber der drei Spiegel der Kommode in der Ecke. Sie hieß: die Frisierkommode. Wir sahen das zarte Gelb der Lilie, die grade aus ihren Blütenblättern kam. Die Lilie, die mein Großvater gemalt hatte, auf goldenem Grund. Mein Vater sah, was ich sah.

 

Wir sahen bis zur Wand mit dem Schwarz des Ofengitters, durch das im Winter die warme Luft kam. Wir sahen bis zur Wand mit dem Braun vom großen Schrank, Wurzelholz, poliert. Wir sahen bis zum Fenster, mit den roten und grünen Kästchen im Muster der Vorhänge. Die schon offen waren.

 

Ich lag mit meinem Vater in seinem Bett. Mein Vater hielt mich in seinem Arm. Ich hatte meine Hand auf seine Hand gelegt, auf seine schwarze Hand. Sogar auf den Fingern hatte er kleine haarige Inseln. Und der Zeigefinger hatte einen verkrüppelten Nagel. Den fühlte ich immer an.

 

Da sagte mein Vater: Wir spielen ein neues Spiel. Es heißt Doppeladler. Du legst dich auf die Seite, und ich leg mich auf die Seite. Rücken an Rücken. Von oben sehen wir dann aus wie ein Adler. Müssen wir die Arme wegstrecken? dachte ich. Ich wollte wissen, wie das Spiel weitergeht. Wenn du zu mir ins Bett kommst, werden wir jetzt immer so liegen. Sagte mein Va­ter. Du bist doch schon ein großes Mädchen.

Monde und Sterne

 

 Weihnachten war immer ein schönes Fest. Wir waren ganz unter uns. Mein Vater. Meine Mutter. Und ich. Ich war: das Kind. Ich war: das Kind, bis ich groß war und ausgezogen bin. Auch danach war ich noch: das Kind.

 

Ich saß vor dem Fernseher. Wir warten aufs Christkind war die langsamste Sendung des Jahres. Das Christkind hieß: der Weihnachtsmann. Bescherung war das Wort, auf das ich die ganze Zeit wartete. Dann durfte ich in den Flur, warten.

 

Wir hatten alles gut vorbereitet. Mein Vater hatte den Baum besorgt. Er sagte immer: Ich geh den Baum besorgen. So wie er immer sagte: Ich geh mal verschwinden. Wenn wir draußen waren und er austreten musste.

 

Es war nie so ganz der richtige Baum. Und mein Vater musste viel an ihm sägen, besonders unten. Manchmal auch noch oben. Oder er mußte gar nicht mehr sägen. Ganz im Gegenteil. Dann war er aber schön gewachsen. Sagte mein Vater.

 

Ich hatte ausgestochen. Tannenbäume, Monde und Sterne. Kei­ne Sonne. Der Teig war mit ganz viel Butter. Und schmeckte so schön weich. Weihnachtsmänner, Engel und Glocken. Mit dem Mes­ser musste man sie aufs Blech heben. Sie durften nicht braun werden. Es mußten feine helle Plätzchen bleiben. Dunkle durf­ten sofort gegessen werden.

 

Meine Mutter hatte sich um das Essen gekümmert. Es gab al­les, was es in der alten Heimat auch an Weihnachten gegeben hatte. Es roch nach warmen Pellkartoffeln, nach Kochwurst, die ohne ihre Haut dalag, nach ausgelassenem Räucherspeck. Es roch nach Hering und saurer Gurke. Es roch nach Essig und Senf. Das Fett von dem Speck kam zischend über die Zwiebeln. Sie krümmten sich auf den Kartoffeln, zuckten noch einmal und lagen still. Glasig, sagte meine Mutter. Es roch nach gemahlenem Mohn, gebrüht mit heißer Milch. Es roch nach warmem Quark, auf dem die Butter zerlaufen war, und nach gequollenen Rosinen. Es roch nach warmem Sellerie, der in Scheiben in seiner Soße liegen musste, über Nacht. Durchziehen, sagte meine Mutter. Es roch nach braun gebratenen weißen Würsten und nach säuerli­chem Kraut. Es roch nur einmal im Jahr so.

 

Ich saß vor dem Fernseher. Meine Mutter hatte zu tun. Mein Vater war friedlich. Sagte meine Mutter.

 

Mein Vater war mit der Zeitung beschäftigt. Sie hieß: die Zeitung. Und er kümmerte sich ums Feuer. Wenn es Winter wurde, war das daheim seine Hauptbeschäftigung. Und lüften. Dauernd die Fenster aufreißen, sagte meine Mutter. Frische Luft reinlassen, sagte mein Vater.

 

Ich saß nicht mehr vor dem Fernseher. Ich war im Flur. Das Wohnzimmer war jetzt: das Weihnachtszimmer. Ich durfte noch nicht rein. Von der Entreetür zur Kinderzimmertür und zurück. Dazwischen war die Wohnzimmertür und die Schlafzimmertür. Da­zwischen war die schwarze Eisentür mit dem Riegel. Der Ofen. Über dem Ofen hingen die Wappen von Oberschlesien und Gleiwitz, im schwarzen Rahmen. Von meinem Großvater gemalt.

 

Ich durfte erst rein, wenn das alte Weihnachtsglöckchen im Weihnachtszimmer klingelte. Es war auch von dem Großvater. Ich hatte ihn nur einmal gesehen, als ich ganz klein war. Aber er schickte Pakete. In denen Sachen waren wie schwarze Spinnen mit ganz haarigen Beinen, die man aufziehen konnte und die dann durchs Zimmer rannten. Oder ein Spiel aus glänzenden Holzklötzchen mit chinesischen Schriftzeichen. Ein Spiel, das kei­ner spielen konnte. Ich spielte damit laufende Mauer. Einmal war in einem Paket ein Beutelchen mit Sand, Wüstensand. Weil er mit der Großmutter in Ägypten bei den Pyramiden gewesen war. Ich hatte lange an dem Sand gerochen.

 

Ich durfte rein. Das ganze Zimmer leuchtete. Von den Kerzen am Baum und von den Geschenken, die aus ihrem Papier heraus leuchteten. Wir mussten uns vor dem Baum aufstellen und singen. Mein Vater. Meine Mutter. Und ich. Stille Nacht, Heilige Nacht war das schönste Lied. Meine Mutter sang dann immer noch: Hohe Nacht der klaren Sterne. Weil ihr das so gut gefiel. Ich lunste zu meinen Geschenken, die auf dem Sofa waren. Es war: das Sofa. Davor war: der kleine Tisch. Meine Geschenke lagen auf dem Sofa, in einer Ecke auf einer kleinen festlichen Decke ausgebreitet.

 

Meine Mutter packte ihre Geschenke am großen Tisch aus. Es war: der Wohn-zimmertisch. Mein Vater stand daneben. Mein Vater lachte. Mein Vater freute sich. Ich sah lieber nicht hin.

 

Ich hatte alles bekommen, was ich gewollt hatte. Bücher, was zum Basteln, was zum Anziehen. Das Spiel. Monopoly. Das ich die nächsten Jahre stundenlang mit mehreren Personen allein spielen würde. Ich war immer die Bank.

 

Ich sah mir eins nach dem andern an. Und noch mal. Und noch ­mal. Morgen früh würde es fast noch schöner sein.

 

Meine Mutter packte ihr Hauptgeschenk aus. Mein Vater stand daneben. Ich sah lieber nicht hin. Mein Vater machte gern al­les falsch, was meine Mutter betraf.

 

Morgen früh würde ich nicht mehr genau wissen, was ich alles bekommen hatte. Nicht mehr so ganz genau. Ich würde schnell aus dem Schlafzimmer zu meinen Weihnachtssachen laufen. Und es würde fast noch einmal das Gefühl sein, von: ganz viel, von allem. Jedes hatte noch sein Neusein. Und Verborgenes in sich. Spielglück, noch nicht angefangen. Und ich verzögerte, nahm jedes nur in die Hand. Und wusste nicht, was zuerst.

 

Meine Mutter hatte ihr Geschenk ausgepackt. Meine Mutter steckte sich ihr Geschenk an den Finger. Meine Mutter drehte ihre Hand im Licht hin und her. Meine Mutter sagte nichts. Mein Vater sagte auch nichts. Ich sah lieber nicht hin.

 

Ich sah meine Weihnachtssachen an. Es war ein Brillantring. Mit dem größten Brillanten, den meine Mutter je gekriegt hat­te. Sie hatte noch nie einen gekriegt.

 

Er war gelb. Meine Mutter sagte: Er hat einen Gelbstich. Sie zog den Ring von ihrem Finger und drehte ihn im Weihnachtslicht hin und her. Mein Vater sagte: Ich habe ihn in einem seriösen Geschäft gekauft. Mein Vater sagte: Und ich habe keinen kleinen genommen. Meine Mutter sagte: Er ist quittegelb.

 

Der Brillant war gelb. Und er war eine Beleidigung für mei­ne Mutter. Da schenkte ihr mein Vater einmal in seinem Leben einen Brillanten, und er war gelb.

 

Ich nahm eins von meinen Weihnachtssachen in die Hand. Und legte es wieder hin. Im Fernsehen liefen die Weihnachtslieder.

 

Mein Vater sagte: Ich weiß gar nicht, was du willst. Mein Vater sagte: Der ist doch sehr schön. Meine Mutter sagte: Den kannst du wiederhaben. Den will ich nicht geschenkt haben. Geschenkt haben, sagte sie.

 

Nach der Tagesschau kam der Weihnachtsfilm. Gott sei Dank.