Harald Braem: Der Libellenmann

Leseprobe


Ich mache Bilder nicht mehr bewusst, sondern lasse sie nach dem Zufallsprinzip entstehen. Ich benutze die Kamera als Aufklärungsdrohne, fange willkürliche Augenblicke ein mit ihr und friere sie fest. Spät abends in einer schrägen Bar mit Reggae-Musik betrachte ich auf dem Laptop die Ausbeute. Meine Gefangenen. Die meisten von ihnen lasse ich sofort wieder frei. Wegen Untauglichkeit. Gnadenlos lösche ich. Oft bleibt kein einziges Bild mehr übrig.

 

Das ist ein Tag ohne Beute. Kein Erfolg. Leider kommt das in letzter Zeit immer öfter vor. Nadja macht manchmal böse Bemerkungen, sie erwartet spektakuläre Bilder. Diese nutzlos vergammelten Tage auf der Insel. Ich trinke jetzt wieder mehr. Muss verdammt aufpassen, sonst geht mir der Führerschein verloren. Ohne Auto bist du verratzt hier.

 

Okay. Ich nehme mich ja zusammen. Dis-zi-plin. Ich kann das Wort laut aussprechen, ohne dabei zu lallen. Kann sogar in korrektem Spanisch meine Bestellung aufgeben. Noch ein leckeres Gesöff kann nicht schaden: »un barraquito mas, por favor. Completo.«

 

Felipe zeigt lachend seine strahlend weißen Zähne. Er war es übrigens, der mir irgendwann von Dracostin erzählt hat. »Vor zwanzig Jahren saß hier auf deinem Platz oft eine schräge Gestalt. Den mochte keiner, der strahlte was Böses aus. Aber auch er liebte diesen Ausblick. Und dann wurde er ermordet.« Mehr wusste er nicht von dem Fall. Aber vielleicht trägt gerade das dazu bei, dass mich dieser Mord so beschäftigt: Der Mann, dieser Dracostin, saß an genau der Stelle wie ich, sah von hier aus ins Aridanetal und bestellte bei einem zwanzig Jahre jüngeren Felipe vielleicht auch Barraquitos …

 

Felipe kennt mich nun schon recht gut, darf mir vertraulich auf die Schulter klopfen und eigene Vorschläge machen: »Warum keinen Dreiundvierziger, Cuarenta y tres … Pfirsich, melocoton, mit Eiswürfeln im Glas?«

 

»Ausgezeichnete Idee«, stimme ich zu. Ich fühle mich wie im Paradies.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke