»Erzähl mir noch eine Geschichte zum Einschlafen.«
»Ich weiß keine Geschichte.«
»Quatsch keinen Müll«, polterte sie liebevoll, »du verdienst dein Geld mit Geschichten, also los, erzähl mir eine.«
»Na gut«, lächelte ich, »was denn für eine Geschichte?«
»Ein Märchen.«
»Ein Märchen?«, fragte ich nun ehrlich verblüfft, »was meinst du damit? Sowas mit ›Es war einmal‹?«
»Egal. Irgendwas. Was es so in der Wirklichkeit nicht gibt. So, dass man plötzlich fliegen kann. Oder sowas.«
»Muss es eine Geschichte sein, die es so nicht gibt, oder geht auch eine, die einfach so unglaublich klingt, dass man denkt, es ist wie ein Märchen?«
»Mein Gott, frag doch nicht immer so viel! Erzähl mir jetzt endlich eine Geschichte!«
»Also gut. Ich habe einmal ein Katzenmädchen aus dem Fenster springen sehen. Es war kein Mädchen und kein Junge, keine Katze und kein Vogel, und es war doch alles zugleich.«
»Du lügst. Du hast mir auch erzählt, du hättest mal ein Ufo gesehen.«
»Ich lüge nicht! Und ich HABE mal ein UFO gesehn! Also, ES WAR EINMAL …«
....es war einmal vor vielen Jahren in der Music-Hall am Walter-Schreiber-Platz. Es war der sechste Juli 1980, und ich tanzte bis zur Erschöpfung. Die Klimaanlage lief zwar auf Hochtouren, aber du weißt ja, das nützte dort nicht viel. Das Wasser lief mir runter, meine Klamotten klebten am Körper, und grade lief Miss you von den Stones. Ich konnte nicht mehr tanzen, brauchte eine Pause und setzte mich auf das Podest, um auszuruhen.
Da entdeckte ich sie. Um genauer zu sein: Da bemerkte ich, dass ich von ihr entdeckt worden war. Sie schälte sich aus einem Pulk dichtgedrängter Menschen und kam auf mich zu, wiegend, weich und geschmeidig, ich hatte noch nie zuvor ein Mädchen so gehen sehen. Irgendwie fremd. Und sehr besonders!
Die ganze Zeit sah sie mir in die Augen. Das faszinierte mich. Immerhin musste sie etwa zwanzig Meter bis zu mir zurücklegen, und sie blickte nicht nach links oder rechts oder wo sie ihre Füße hinsetzten könnte. Es war wirklich brechend voll, aber sie schaffte es, sich durch die Menge zu bewegen, zu gleiten, niemanden anzurempeln und die ganze Zeit ihre Augen in meine zu bohren, das war, ich weiß nicht, das war ein wenig unheimlich.
Ich weiß noch, dass sich mir der Vergleich mit einem wilden Tier aufdrängte, ein Tier, das auf der Jagd ist und sich trittgenau durchs Unterholz bewegt, ohne die Beute aus dem Blick zu lassen und ohne ein einziges Geräusch zu verursachen. Sie kam immer näher. Trotz der Hitze trug sie ein langärmliges, bodenlanges Bhagwan-Gewand, so einen Hippielappen, kam näher, blieb vor mir stehen und sagte: »Hey, du bist aber gutes Material!«
Mir fiel die Klappe.
Sie stand sehr dicht vor mir, ich saß auf dem Podest, und obwohl ich saß, überragte sie mich nur um wenige Zentimeter. Würde ich aufstehen, dann könnte ich ihr locker auf den Kopf spucken, aber einstweilen war mir nicht nach Spucken, sie hatte mir die Sprache verschlagen. Immerhin war ich ja noch ganz schön jung, grade siebzehn geworden, und in dem Alter ist man noch nicht so abgebrüht.
»Hey«, sagte ich dann ziemlich einfallslos.
»Hey«, wiederholte sie. Immer noch bohrte sich ihr Blick in meine Augen. Mir fiel auf, dass sie bisher nicht ein einziges Mal mit den Lidern geblinzelt hatte. Und, noch merkwürdiger, als einziger Mensch im ganzen Club hatte sie ein trockenes Gesicht. Alle andern glänzten von Schweiß. Ich auch. Sie nicht. Und, sie blinzelte nicht.
»Setz dich doch«, meinte ich und machte eine einladende Geste mit der Hand.
»Nein, keine Lust. Steh du auf.«
Ich stand auf und hätte ihr tatsächlich ohne Probleme auf den Kopf spucken können. Ich kicherte albern. Sie packte mich im Genick, riss meinen Kopf nach unten, presste mir ihren Mund auf die Lippen, küsste mich wild, leidenschaftlich und dermaßen hart, dass mir schwindlig wurde vor Verlangen. Dann ließ sie mein Genick los, und ich blieb wie ein versteinerter Volltrottel unbeweglich stehen...
© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke