Anne Bax: Herz und Fuß

Leseprobe


Das ganze Ruhrgebiet...

...lag uns im Abendlicht zu Füßen. Stadt an Stadt an Stadt, so weit das Auge reichte. Der hohe Gitterzaun, der die weitläufige Industriebrache, die uns umgab, vor Besuchern ohne Eintrittskarte schützte, wurde auf meinen Befehl zum unüberwindbaren Wassergraben um unser eisernes Schloss. Es war ein Freitag im Juli und das war unsere erste richtige Verabredung. Ich überlegte kurz. Vielleicht auch unsere zweite, auf keinen Fall unsere dritte, dafür wusste ich noch zu wenig über sie. »Von hier oben kann man bis Düsseldorf sehen«, flüsterte ich so stolz in ihr Ohr, als hätte ich den 117 Meter hohen und 68 Meter breiten Oberhausener Gasometer, auf dessen vorderer Aussichtsplattform wir standen, persönlich und nur für diesem Zweck umgebaut.

 

Ich wies über Rhein-Herne-Kanal und Emscher hinweg weltgewandt in die Richtung, in der ich Düsseldorf vermutete. Mit bloßem Auge gesehen hatte Düsseldorf von hier oben noch kein Mensch. Wenn man es ganz genau betrachtete, war das einfach einer der Sätze, die wir in den täglichen Führungen gern benutzten, um Reisende aus ländlich geprägten Bundesländern zu beruhigen. Die Tatsache, dass man eine so gepflegte und modisch tonangebende Stadt wie Düsseldorf vom Dach einer gewaltigen, eisernen Tonne sehen konnte, deren Innenwände auf ewig mit dunklem Schmierfett bedeckt waren, ließ ganz Oberhausen gleich mehr nach Armani und weniger nach Armut aussehen. Dort im fernen Düsseldorf roch es schon morgens nach Chanel, hier roch es den ganzen Tag nach Kanal.

 

Ihr war das natürlich vollkommen unwichtig. Sie winkte fröhlich hinab zu einem langen Güterzug, der sich parallel zum Kanal mit vielen bunten Containern einem unbekannten Ziel entgegenschleppte. Ich nahm vorsichtig ihre warme Hand, ihre Finger schlossen sich mit angenehmem Druck um meine und wir schauten gemeinsam in den Sonnenuntergang. Die Sonne ging über Oberhausen natürlich nie an einem geraden Horizont unter, sondern sie blieb vorher immer an irgendeiner verbeulten Satellitenschüssel, einem qualmenden Schornstein oder einer frisch renaturierten Halde in der Nähe von Duisburg hängen. Im Moment riss sie sich gerade die komplette linke Seite an der Silhouette dreier stillgelegter, rostiger Hochöfen blutig und der ganze Himmel zerfloss dunkelrot.

 

Meine neue Eroberung fand auch das schön. Die warme Luft, die ihr das lange Haar zerzauste, umgab uns mit dem Duft von feuchtem Asphalt, irgendwo weit weg hatte es schon zu regnen begonnen. Ich zog sie näher zu mir und suchte in ihren blauen Augen nach meinem Spiegelbild. Da war ich, mein schmales Gesicht, meine dunklen Augen, mein fragender Mund mitten in ihrem sanften Lächeln. Sie war ein paar Jahre jünger als ich oder sie war deutlich älter. Vielleicht waren wir auch beide fünfunddreißig. Mein Herz klopft, flüsterte sie. Ich lauschte. Wenn ich noch ein Herz gehabt hätte, hätte es jetzt bestimmt auch heftig und hörbar geklopft. Aber leider blieb es in dem hohlen Raum in meiner Brust absolut still. Was sicher nicht nur an dem emotionalen Frontalzusammenstoß lag, der mir in einem Sommer wie diesem vor ziemlich genau acht Jahren das Herz zertrümmert hatte, sondern auch daran, dass ich in Wirklichkeit hier oben auf dem Gasometer vollkommen allein war.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke