Der Anfang des Romans
Sie liegen im Bett, meine Eltern. Meine Mutter unter der Dachschräge auf der linken Seite, mein Vater auf der rechten, ihre Füße zeigen zur Mitte, zu der Dachgaube mit dem niedrigen Fenster,
unter dem ihr alter Wohnzimmertisch steht und die Stühle mit den Sitzkissen, die mein Vater bestickt hat in unendlichen Abenden vorm Fernseher: Ein Blick auf die Nachrichten – ein Blick auf die
Stickarbeit. Ich sitze auf dem einzigen Polstersessel wie auf einem Thron. Mein Volk ruht, und ich wache über seinen Schlaf.
Meine Mutter hebt den Kopf:
»Tinchen?«
»Ja?«
»Ich hab doch noch eine Frage: Wo sind die Bettbezüge?«
»Die sind doch im Schrank, im unteren Fach links.«
Meine Mutter setzt sich auf, ihr kleines Gesicht schaut über die Bettdecke zu mir herüber, und ich frage mich wieder einmal, ob sie mich sieht. »Das musst du mir doch mal eben zeigen«, sagt sie
und wendet sich langsam zur Seite. Sie lässt die Beine aus dem Bett mit den verstellbaren Kopf- und Fußteilen baumeln und stellt sich mit einem kleinen Ruck auf.
Ich drehe den Kopf weg, weil sie nackt ist. Seit mehr als einem Jahr zieht sie sich aus, sobald sie sich aufs Bett legt, Schlafanzüge drückten sie überall, behauptet sie. Es ist eine Qual, sie
nackt zu sehen. Ich kenne die Hüften mit den überquellenden Wülsten auswendig, den runzligen Po, von dem das Fleisch abgewandert ist und viel leere Haut hinterlassen hat, und ich kenne die tief
herabhängenden mageren Brüste und den kleinen Buckel auf dem Nacken, der sie beugt. Es ist ein Körper, der von seiner dreidimensionalen Form in eine Fläche zerlaufen ist.
»Tinchen, Minchen, Stinchen«, sagt sie, »komm, zeig mir, wo die Bettbezüge sind, bevor du abfährst. Du fährst doch bald, nicht?«
Mein Vater hebt den Kopf. »Fährst du weg?«, fragt er beunruhigt.
»Ich muss doch wieder nach Hause, Papa.«
»Nach Hause …«, sagt er nachdenklich, »wo sind wir denn hier?«
»Wir wohnen doch jetzt hier!«, ruft meine Mutter ungeduldig. »Im Haus ›Frieden‹ bei Bergmanns. Und gleich um die Ecke ist dein Geburtshaus. Das weißt du doch.«
Ich stehe auf und öffne für meine Mutter den Kleiderschrank, es gelingt mir, ihre Hand an den Stapel mit der Bettwäsche zu führen, ohne ihren Körper anzusehen.
»Warum sind wir denn hier?«, fragt mein Vater, wartet aber nicht auf eine Antwort. »Ich bin ganz besoffen im Kopf!« Er lässt sich zurückfallen. »Ach, wenn der liebe Gott einen doch einfach
einschlafen ließe, wenn man nicht mehr klar denken kann.«
»Gut«, sagt meine Mutter, »jetzt weiß ich, wo die Bezüge sind. Das kann ich dann den Helferinnen sagen. Wenn wir morgen ins Pullewässerchen kommen, beziehe ich die Betten neu. Die Helferinnen
sind ja mit allem überfordert.« Sie wendet sich ab und strebt an mir vorbei zur Badezimmertür. »Jetzt muss ich doch schon wieder«, sagt sie und schüttelt den Kopf, »zum Klö-hö-hö-chen, zum
Pinkelatorium, mokisch, mokisch!«
»Mokisch? Was soll das denn sein?«, frage ich laut, um das Geräusch zu übertönen, das gleich zu hören sein wird. Natürlich hat meine Mutter wieder die Badezimmertür nicht geschlossen und lässt
ein ungeniertes, geradezu freches Plätschern hören.
»Mokisch ist komisch!«, ruft sie. »Ich spiele doch gern mit Wörtern!«
Sie hat eine blecherne Altfrauenstimme, und sie spricht mit der gleichen scheppernden Energie, mit der sie früher Staub und schlechten Manieren zu Leibe rückte, wütend und heftig.
»Wo bist du denn zu Hause?«, fragt mein Vater schüchtern.
»In Potsdam«, sage ich.
»Ach ja.« Er denkt nach. »Hast du nicht auch einen Mann?«
Ich muss lachen. »Ich hab doch schon eine große Tochter. Und drei Söhne!«
Er schaut mich interessiert an. »Kennen wir deine Tochter?«
»Jetzt hör aber mal«, sage ich mit gespielter Empörung, »natürlich kennt ihr die. Die Anne!«
»Ach ja«, er nickt, »natürlich. Anne.«
Meine Mutter kommt zurück, sie geht zielstrebig durch den Raum und bückt sich vorm Bett nach einem Fetzen Papiertaschentuch. Ich verziehe das Gesicht, grimmig sage ich mir, dass sie nur nach
Bedarf blind ist.
»Das ist eine ganz Schlimme«, sagt sie, »die hat doch ganz viele Freunde. Einen nach dem anderen.«
»Von wem redest du?«, frage ich verblüfft.
»Na, von unserem Tinchen in Potsdam.«
»Von wem?«
»Na, deine Tochter!«, sagt sie ungeduldig.
»Aber das ist doch Anne, und die wohnt in Frankfurt. Tina bin ich.«
»Ist doch egal«, sagt meine Mutter beleidigt, »du weißt genau, wen ich meine. Du musst nicht immer so scheußlich sein und Widerworte geben.«
Sie setzt sich aufs Bett und lässt sich mit geradem Rücken in Zeitlupe zurücksinken.
»Ich weiß gar nicht, wovon ihr redet, ich bin so wirr im Kopf«, jammert mein Vater.
»Quatsch!«, sagt meine Mutter scharf. »Ich bin blind, und das ist wirklich schlimm.«
Ruhe breitet sich aus, eine hörbare Ruhe, die von leisem Geschirrklappern aus der Küche im Erdgeschoss begleitet wird wie ein Musikstück, in dessen Partitur über allen stimmführenden Instrumenten
ein »tacet« geschrieben steht. Ich möchte nichts mehr hören, nur das Klappern des Geschirrs von unten.
Da setzt mein Vater sich auf. »Wo wohnst du doch gleich?«
»In Potsdam.«
»Potsssdammmm…«, sagt meine Mutter, »da wohnte doch auch …«
»Preußische Könige! Potsdam! Friedrich der Große«, sagt mein Vater munter, »1712 bis 1786.«
Ich weiß, wie es weitergeht: Mit Sanssouci, Rheinsberg, Katte und dem Soldatenkönig.
»Ja, der Alte Fritz hatte einen strengen Vater«, sagt er.
»Den meine ich aber nicht«, sagt meine Mutter ungeduldig, »ich meine die … na, die mit … ihr wisst schon. Die mit dem Franzosen. Mit Napoleon.« Sie wird unruhig, wenn sie sich ärgert. Das
Personal im Haus hat strikte Anweisung von der Chefin, meiner Mutter nicht zu widersprechen. »Ihr wisst es doch!«, faucht sie.
»Luise?«, rate ich. »Königin Luise?«
»Jaaa, die meinte ich.«
»Frau von Friedrich Wilhelm III.«, stellt mein Vater klar, der alte Geschichtslehrer.
»Wir haben doch dieses Denkmal gesehen«, fährt meine Mutter fort, »weißt du noch, als wir Tina besucht hatten, da waren wir an diesem Denkmal.«
»Ja, ist sie denn da begraben?«, fragt mein Vater.
»Sonst hätten sie doch nicht dieses Denkmal«, antwortet meine Mutter. »Tja, die Luise … die hatte auch kein leichtes Leben.« Sie seufzt.
»Jung gestorben«, sagt mein Vater nachdenklich.
»Und wir leben noch! Alle beide! Und wir sind zusammen hier!«, stellt meine Mutter triumphierend fest.
»Ja, wir leben noch«, sagt mein Vater. Es klingt wie ein schwaches Echo. Er angelt auf dem Nachtschrank nach seiner Brille, setzt sie auf und studiert die Armbanduhr. »Ist das richtig: halb
zwei?« Er schaut zu mir hoch. »Wo sind wir denn hier?«
»Im Haus ›Frieden‹, bei Bergmanns, Papa.«
Er schaut sich um. »Ja, ich erkenne die Kissen«, sagt er, »die habe ich gestickt … wie ist das möglich, dass ich so was früher gemacht habe?«
»Hättest stattdessen öfter spülen sollen!«, sagt meine Mutter.
»Und warum sind die Kissen jetzt hier?«, fragt er.
»Damit ihr es gemütlich habt«, sage ich und lege so viel Freude und Zuversicht in die Stimme, wie ich nur kann. »Tatjana und Katja und Maria sorgen für euch, weil ihr nicht mehr allein in eurem
Haus leben könnt.«
»Können wir das nicht?«, fragt mein Vater überrascht.
»Ich bin doch blind!«, ruft meine Mutter. »Ich kann den Haushalt nicht mehr erledigen, das erfährst du wohl erst jetzt, so en passant! – En passant par la Lorraine!«
»Avec mes sabots, dondaine«, sagt mein Vater erfreut und beginnt zu singen, »o-o-o, avec mes sabots.«
»Avec mes sabots«, bestätigt meine Mutter.
Mein Vater legt die Brille auf den Nachttisch und schließt die Augen. Sein Gesicht entspannt sich. Auf der anderen Seite des Zimmers ragt die Nasenspitze meiner Mutter über die Bettdecke.
Es ist ruhig. Ich lehne mich zurück in dem riesigen Polstersesselthron und schließe die Augen.
In einer Stunde werde ich mich zum Zug davonschleichen....
Der Anfang von Kapitel 3
Meine Mutter wäre gern Ärztin geworden. Doch ihre Eltern verwehrten ihr jede Berufsausbildung. Das war ein immer wiederkehrendes Thema in meiner Kindheit gewesen. Sie litt daran, »nichts zu
können«. Sie war die mit Abstand jüngste von drei Töchtern; die beiden älteren durften auf dem Lyzeum ihren Schulabschluss machen, beide wollten Lehrerin werden, doch die Älteste starb schon bald
an Tuberkulose. Die mittlere wurde Lehrerin und heiratete, sodass sie als Pflegerin und Haushälterin für die Eltern nicht infrage kam, als die Mutter – wie es damals hieß – »gemütskrank« wurde.
Aber die Jüngste war ja da, sechzehn Jahre alt. Sie wurde aus der Schule genommen und war von da an Hausfrau. Ihren Traum, Ärztin zu sein, vergaß sie nie. Sie las, sie bildete sich selbst durch
Lektüren wie »Die Frau als Hausärztin« und später durch Reformhauszeitschriften. Sie wurde Expertin für gesunde Ernährung. Soweit ich zurückdenken kann, hatte sie gewusst, was für jeden das Beste
war, dass man Baumwolle am Leib trägt und keinen Kunststoff, dass für jedes Stück Schokolade ein neuer Pickel am Kinn sprießt und den Körper mit Schlacken verstopft und dass Zurückhaltung einem
Menschen wohl ansteht. Sie war die Pries-terin des guten Geschmacks, der Kultiviertheit, der Vernunft und der gesunden Lebensführung. Hatte sie durch einen Artikel in der Reformhauszeitschrift
eine neue Einsicht gewonnen – wie zum Beispiel, dass der Mensch ohne eine Banane täglich nicht existieren könne, dass Cashewkerne das Gehirn in Schwung halten und dass Tischgebete neben dem
sittlichen auch einen praktischen gesundheitlichen Wert haben –, setzte sie deren Umsetzung in ihrer nächsten Umgebung durch. Widerstand war sinnlos, es gab nur Unterwerfung unter ihr Diktat, und
das bedeutete, die getrockneten Bananen, den geschroteten Leinsamen, das gekeimte Getreide oder die sauer-knackigen Äpfel hinzunehmen, die einem beim Reinbeißen das Gesicht verzogen.
Meine Mutter redete meinen Vater zu Boden, wenn er beim Mittagessen nicht ordentlich zulangte. Sie kochte gut, ihr Essen schmeckte, es waren fast immer vegetarische Gerichte, weil sie sich vor
Fleisch ekelte. Mein Vater und ich waren ohnehin duldsame Allesesser.
»Paul, warum isst du nichts?«
»Ach, heute habe ich nicht so einen großen Appetit.«
»Bist du etwa krank? Hast du dir mit irgendwas den Magen verdorben?«, fragte sie argwöhnisch.
Das stritt mein Vater energisch ab.
»Aber es muss doch was sein!«
Meine Mutter ließ bei keinem Verhör locker, und wenn sie schließlich doch aufgab, dann musste man es büßen. Sie legte dann auf bestimmte Art den Kopf schräg und starrte in die Luft und wartete,
bis mein Vater ängstlich fragte: »Hannachen, was hast du denn?« Worauf sie die Nasenflügel zusammenkniff, geräuschvoll einatmete und »Nichts!« hervorstieß.
»Paul, hat es einen anderen Grund, dass du nichts isst? Bist du etwa satt?«
Mein Vater biss sich auf die Unterlippe und schaute schuldbewusst auf seinen Teller.
»Paul, hast du vielleicht unterwegs ein Würstchen gegessen?«
Sie kannte seine Leidenschaft für ungesundes fettes Essen: Bratwurst, Frikadellen, Eisbein. »Sag mir die Wahrheit: Hast du unterwegs was gegessen?«
Er gab sich geschlagen und seufzte laut. »Meine Güte, ja, ein Bratwürstchen. Es roch so lecker, und ich hatte solchen Appetit.«
Sie warf sich voller Empörung gegen ihre Stuhllehne zurück.
»Ich kann es nicht fassen! Du weißt genau, dass die in diesen Buden uraltes Fett verwenden, mir wird schon schlecht bei der Vorstellung! Paul, du hattest mir versprochen, dass du dich
zusammenreißt. Du weißt, wie schädlich diese Ernährung ist …«
Es folgte gewöhnlich ein Exkurs über die Bedürfnisse von Galle, Herz und Darm, und am Schluss belehrte sie über den Zusammenhang von Liebe und gesunder Versorgung:
»Wenn die Kollegenfrauen ihren Männern Schnitten mitgeben, auf denen die Wurst doppelt und dreifach liegt und auch noch über den Rand hängt, dann kannst du Gift drauf nehmen, dass deine Kollegen
frühzeitig am Herzinfarkt sterben.«
Ich erinnere mich, dass ich dabei ungerührt weiter aß. Wenn meine Eltern untereinander uneins waren, bröckelte ihre geschlossene Front. Das war erholsam. Normalerweise waren sie einer Meinung,
und zwar der Meinung, die meine Mutter vorgab, besonders in Dingen, die mich betrafen.
Meine Trotzphase gegen gesundes Essen konnte ich als Studentin ausleben mit fettigem Mensafraß und Blätterteigtaschen, aus denen der Zuckersaft troff ...
Der Anfang von Kapitel 9.
Sie knetet die ausgezehrten Hände und reißt sie wieder auseinander. Sie rollt den Kopf hin und her und klopft sich auf die Brust. »Hier«, sagt sie, »hier ist was. Hier stimmt was nicht.« Abrupt
hält sie inne und dreht mir ihr Gesicht zu. Die Augen kneift sie zusammen, vor allem das rechte, das schlechte. Dabei zieht sie die Gesichtshälfte hoch. Es ist eine Affengrimasse, lächerlich und
abstoßend. »Bitte, verzeih mir doch«, sagt sie flehend und ich protestiere erschrocken, weil ich mich ertappt fühle »Hier ist was«, fährt sie fort und zerrt an ihrem Haar, immer wieder reißt sie
an den Stirnfransen, es ist eine grobe Bewegung, es muss ihr wehtun. Ihre ehemals dicken, glänzend schwarzen Haare sind dünn und grau gesträhnt, es gibt kein erbarmungswürdigeres Grau als diesen
verwaschenen Schmutz auf der einst schwarzen Pracht.
Ich nehme ihre Hände. »Mama«, sage ich, »Mama, du tust dir doch weh.«
»Das muss aber …«, sie zupft und zerrt, »hier!« Sie beugt sich vor und sinkt mit einem Ächzen zurück. »Oh, Gott, nein.« Ihre mageren Hände krallen sich vor der Brust ineinander und fahren wieder
auseinander wie ruckelnde Marionetten. »Ich wollte doch … ja, ich wollte die Haare in den Rucksack packen.«
Ich streiche über ihre Hände. »Mama, doch nicht in den Rucksack.«
»Doch«, sie nickt und sieht aus wie ein eigensinniges kleines Mädchen, »doch, in den Rucksack! Ja, genau.«
Jetzt zieht sie an den Augenwimpern. »Hier ist doch was«, sagt sie.
»Mama«, sage ich, »ach, Mama.« Ich beuge mich über sie und lege mein Gesicht an ihres, das sich kühl und glatt anfühlt wie die Wange eines kleinen Kindes.
Sie lässt die Hände auf die Bettdecke sinken und schließt die Augen. Ihr Körper entspannt sich.
»Ich hab dich lieb«, flüstere ich in ihr Ohr.
Sie nickt kaum merklich. »Weiß ich doch.«