Doris Lerche: Damit ich dich besser küssen kann

Leseprobe


Irgendwo

Mein Liebster ist auf der Suche. Ich hatte geglaubt, dass ich es bin, die er will.

 

Ich hatte geglaubt, dass ich es bin, die ihm seine Sehnsüchte stillt, seine Ängste beruhigt.

 

Aber ich bin es nicht.

 

Ich spüre die Rastlosigkeit in seinen Adern, kaum dass er am Morgen mein Bett verlässt.

 

Ich spüre, wie es ihn wegzieht. Er verkriecht sich hinter der Zeitung wie ein Ehemann, er wirft mir ein paar zerstreute Küsse hin, ehe er geht, und jedes Mal denke ich, er kommt nicht wieder, er hat da draußen endlich gefunden, was er sucht. Jedes Mal wundere ich mich, wenn ich am Abend meinen Schlüssel höre, wie er ihn im Schloss dreht. Jedes Mal bin ich überrascht, ihn zu sehen.

 

Er sucht eine Frau, die er lieben kann, sagt er. Mit der er leben kann. Mit der er ein Kind wollen kann. Mit der er alt werden kann.

 

Ich will nichts als ihn lieben.

 

Was will er bei mir? Warum kommt er jeden Tag, redet mit mir, liest seine Zeitung bei mir, geht mit mir ins Kino, ins Konzert, zu Freunden? Warum schläft er mit mir, wenn er mich nicht will? Warum frühstückt er mit mir, wenn er mich nicht will?

 

Ist es nur, weil er sich einsam fühlt? Weil nichts Besseres in Sicht ist?

 

Bin ich wirklich nur eine zufällige Frau von vielen, an der er beiläufig hängenblieb?

 

Er fühlt sich frei bei mir, sagt er, weil er mich nicht wollen muss. Darum kommt er immer wieder. Aber er möchte gern eine Frau, die er will, sagt er.

 

Und so kommt er und geht er, immer auf dem Sprung, die Liebe nicht zu verpassen, die wahre, die richtige, die eigentliche Liebe, die draußen irgendwo irgendwann vorüberläuft. Er muss wachsam sein, dass er sie nicht übersieht, die Liebe, er darf sich nicht leichtfertig wohlfühlen mit mir, eingelullt von meinen Küssen.

 

Und ich?

 

Ich nutze die Zeit, die ich ihn habe. Ich entfessele seine Wünsche. Ich vergesse seine Liebe da draußen. Er vergisst sie nicht. Nur für Sekunden vergisst er sie, wenn er sich dankbar verströmt in mir. Nur für Sekunden sehe ich sein steifes Gesicht schmelzen, sehe ich die sanfte Wärme in seinem Blick. Nur für Sekunden lässt er sich bei mir nieder.

 

Danach stürzt er fort, flüchtet vor mir, als wollte ich ihn schlagen, flüchtet vor mir, als sei es für immer.

 

Ich hatte geglaubt, dass er es ist, der meine Sehnsüchte stillt, meine Ängste beruhigt.

 

Aber er ist es nicht.

 

Irgendwo draußen wartet die wahre, die richtige, die eigentliche Liebe.

 

Ich bin auf dem Sprung.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke