Wolfgang Kirschner: Huch das Leben

Leseprobe


Fünf finde ich gut

Mit fünf hatte ich genug vom Kindergarten, und ich beschloss, mich selbst einzuschulen. Besonders die tägliche Singerei mit Schwester Hildegard hatte mich dazu gebracht. Ich hasste Singen, und ich hatte die Nase voll von so peinlichem Zeug, wie »Zeigt her eure Füße …« oder »Grün, grün, grün ist alles, was ich habe …« und wie dieser kindgerechte Käse noch so hieß. Außerdem sollten wir Topflappen für Weihnachten häkeln. Spätestens da sagte ich mir, was soll’s, es kommt sowieso auf mich zu, also warum nicht gleich?

 

Der erste Tag in der Schule war schon gelaufen, also ging ich am zweiten Tag hin. Das hatte den Vorteil, dass man die Eltern zu Hause lassen konnte. Blöd war eigentlich bloß, dass es keine Schultüte mit Süßigkeiten gab. Aber Topflappen häkeln war noch viel blöder.

Ich nahm den alten Lederranzen, den ich Wochen vorher auf dem Speicher zusammen mit anderem Krempel gefunden hatte. Das Zeug gehörte wahrscheinlich früher mal Frau Kümmerles Sohn. Frau Kümmerle war vor einem halben Jahr ins Altersheim umgezogen und hatte die Kiste im hintersten Eck wohl vergessen. Aber vielleicht wollte sie die Sachen auch bloß nicht mitnehmen. Was hatte sie schon von einem Fahrradschlauch, der fünfmal geflickt war? Oder einem blinden Rasierspiegel? Oder von Fußballstiefeln? Ganz zu schweigen von so Heftchen, in denen Frauen abgebildet waren, die nicht mal was anhatten? Das ganze Zeug sah aus, als stammte es aus einer Zeit, da die Leute noch ziemlich arm waren. Vor zehn Jahren oder so. Ich erzählte niemandem von der Kiste.

 

Den Schulranzen versteckte ich im Kiesbehälter hinter dem Rathaus. Da schaute im Spätsommer kein Mensch nach. Erst im Winter, wenn gestreut wurde, aber das war ja noch lange hin.

 

Als ich morgens statt in den Kindergarten in die Gesamtschule ging, war ich wirklich beeindruckt. Das Gebäude war zehnmal so groß wie der Kindergarten und sah viel strenger aus. Ich hatte Mühe, die schwere Eingangstür aufzustemmen, und nachdem ich die steinernen Treppenstufen hinaufgegangen war, stand ich vor einem langen Gang mit lauter Türen. Es war kühl im Haus und dunkel. Aus den Zimmern hörte man Stimmen, Frauenstimmen, aber gesungen wurde nicht. Das beruhigte mich. Ich war nämlich schon aufgeregt genug an meinem ersten Schultag.

 

Als ich die erste Tür öffnete, blickten mich jede Menge Gesichter an. Einige ziemlich blöd, ehrlich gesagt.

 

»Na, wohin willst denn du …?«, fragte mich die Lehrerin an der Tafel.

 

»In die Schule«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

 

Einige von den Blödguckern kicherten.

 

»Ja, schon, aber in welche Klasse?«, fragte wieder die Lehrerin.

 

»In die erste?«, antwortete ich etwas verunsichert.

 

Die Blödgucker schnitten Grimassen und sahen dadurch noch blöder aus.

 

»Das dachte ich mir. Aber wir haben hier die 1a, die 1b und die 1c. Welcher bist du denn zugeteilt worden?«

 

»1a«, sagte ich. Das klang am besten.

 

»Na dann, herzlich willkommen!«, summte die Lehrerin, was mir nicht so gefiel. Vielleicht wurde hier doch gesungen.

 

Ich ging hinein, schloss die Tür hinter mir und wartete, was weiter geschehen würde. Die Blödgucker guckten, als ob sie nicht bis fünf zählen könnten.

 

»Wie heißt du denn? Ich hab dich gestern gar nicht gesehen, am Einschulungstag.« Die Lehrerin blickte mich nicht direkt blöd an, aber viel fehlte nicht.

 

»Meine Eltern waren verhindert«, sagte ich. »Mein Vater heißt Senador, und ich bin sein Sohn.« Eigentlich hieß er Max Ador senior, abgekürzt sen. Aber meine Mutter nannte ihn bloß »den Senador«.

 

»Dein Vater ist Senator!«, korrigierte mich die Lehrerin.

 

Meinetwegen, dachte ich.

 

»Und Senator für was?«, fragte sie neugierig.

 

»Für … Schule«, fand ich am naheliegendsten. Er sagte nämlich häufig, wenn das Schule macht, dann Gute Nacht! Er war Pleitier, sagte meine Großmutter.

 

»Ups!«, machte die Lehrerin, als hätte sie einer auf den Rücken gehauen. Sie begann, in irgendwelchen Papieren zu kramen. Dabei fuhr sie mit dem Zeigefinger zigmal das Blatt rauf und runter. »Senator Steinbeck also … Warum sagt mir das keiner? … Schlamperei, so was …

 

Nichts vermerkt, NICHTS …!«, murmelte sie.

 

Aber sie sah mich beglückt an. »Und dein Vorname?«, summte sie wieder so.

 

»Max.«

 

»Also, Max, dann setz dich doch gleich hier vorne neben Elena. Es ist uns allen eine Ehre …!«

 

Sie führte mich höchstpersönlich neben das Mädchen mit den blonden Zöpfen. Ich war überrascht, wie man in der Schule behandelt wurde. Wenn der Senador von der Schule erzählte, hörte sich das immer nach einer Irrenanstalt mit hochgefährlichen Bekloppten an. Na ja, die Blödgucker waren erst mal nur mit Gucken beschäftigt, aber wer wusste, was denen noch einfiel.

 

Als ich saß, schaute mich die Lehrerin wohlwollend an und sagte: »Du wirkst noch so … klein. Wie alt bist du denn, Max?«

 

»Fünf«, sagte ich. Als der Lehrerin das Gesicht einstürzte, sagte ich schnell: »Fünf Monate, dann werde ich sieben!«

 

Das beruhigte sie.

 

Mein erster Schultag verlief erstklassig. Mittags wurde ich gleich zu Elena nach Hause eingeladen, wo ihr älterer Bruder mit Fußballbildchen angab. Ich erzählte ihm von den Heftchen. Das saß. Es gab Sauerbraten mit Knödeln. Im Kindergarten hätte es Salami-Brot mit Banane gegeben. Das gab es fast immer. Die Kindertagesstätte war arm, wir mussten uns das Essen selbst mitbringen.

 

Am nächsten Tag kam der Direktor und fragte, ob ich mit allem zufrieden sei. Als ich bejahte, hätte er mich fast umarmt. Am dritten Tag war Wandertag. Alle wanderten um mich herum. Am vierten Tag kam wieder der Direktor, um mich beinahe zu umarmen. Am fünften Tag kam die Polizei. Der Direktor winkte mich heraus, und alle glaubten, ich würde nun zum Flughafen oder so etwas eskortiert werden. Aber es kam anders.

 

»Du bist erst fünf!«, zischte der Direktor. »Und der Senator hat gar keine Kinder.«

 

»Doch, mich!«, rief ich empört.

 

»Lass mal, Max …!«, hörte ich den Senador rufen, als er die Treppen hochgekeucht kam. Und zum Direktor und zur Polizei sagte er: »Ein Missverständnis, meine Herren. Ich kann alles erklären …«

 

Danach gab es keinen Sauerbraten mehr. Nur wieder Salamibrote und Bananen. Und gesungen wurde auch wieder. Und die Topflappen musste ich häkeln. Aber ich hatte neue Freunde gefunden. Fast täglich kamen welche aus der Schule vorbei, ältere meistens, und kauften mir die Fotos von den Frauen aus den Heftchen ab, wo sie nichts anhatten. Die fünf Tage in der Schule hatten sich gelohnt. Ich konnte mir jetzt alle Süßigkeiten kaufen, die es so gab. Überhaupt: Fünf finde ich gut. Es ist seitdem meine Glückszahl.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke


Weihnachten ist viel zu schön

Als ich erfuhr, dass das Universum sich bloß ausdehnt, um eines Tages einzustürzen, war mir der Appetit auf das Mittagessen vergangen. Was machte es noch für einen Sinn, wenn am Ende alles zusammenfiel? Wie bei Omi, wenn sie ihr Gebiss herausnahm.

Wir waren gerade auf dem Heimweg von der Schule. Dorian bemerkte meine Niedergeschlagenheit und beeilte sich, mich zu beruhigen: »Aber erst weeeiiit in der Zukunft. Wir erleben das nicht mehr.«

 

Ich wusste nicht, wie lange Dorian Denkendorf vorhatte zu leben, aber für mich war das kein Trost. Wenn man sieben Jahre alt ist, liegt das Leben wie eine endlose, buntbedruckte Klopapierrolle vor einem, von der man gerade das erste Blatt abgerissen hat. (Entschuldigung, aber bei Siebenjährigen sind solche Vergleiche altersgerecht). Außerdem kann ich nicht in kosmischen Zeiträumen denken. Weit in der Zukunft – das war für mich, wie wenn Dorian sagte: Ich hole dich übermorgen zum Fußballspielen ab. Aber das würde er sowieso nie sagen, weil er Fußball verachtete.

 

Vor einem Jahr hatte er mich noch verachtet, weil ich an den Weihnachtsmann glaubte. »Du glaubst wohl auch noch an den Klapperstorch, was!«, hatte er geunkt, während mich sein großer Denkendorf-Kopf auf dem schmächtigen Körper bedenklich anschaute. Ich verstand nicht recht, was er meinte.

 

Nun waren wir also auf derselben Strecke unterwegs. Bald würde wieder Weihnachten sein, und ich glaubte nicht mehr ans Christkind. Nicht so wie vor einem Jahr noch. Aber sicher konnte man da nicht sein. Ich war mir ja nicht mal sicher, ob ich Weihnachten noch erleben würde. Das Universum stand vor dem Einsturz. Und Dorian irrte sich nie. Er hatte in allen Fächern eine Eins. Außer in Sport.

 

»Bald schneit es«, sagte er jetzt zum eisblauen Himmel hochblickend.

 

Kein Wölkchen störte das Blau, nicht mal unsere Atemwölkchen, aber weil Dorian das sagte, knöpfte ich automatisch meine Jacke zu. In Wahrheit nämlich suchte er da oben nach Anzeichen für den Weltuntergang. Und der kam, wenn sich das Universum an der Schwerkraft seiner eigenen Planeten verschluckte – BLUB. Danach gab es wieder einen Urknall – BÄNG – und alles fing von vorne an. Um mich nicht noch mehr zu beunruhigen, erfand er jetzt das Märchen vom Schnee. Als ob es darauf noch angekommen wäre.

 

Zu Hause stocherte ich lustlos im Essen herum. Meine Mutter hatte die Sauerbratenreste vom Sonntag mit einer Fertig-Bratensoße und Pfanni-Knödeln gestreckt. Das Essen dehnte sich auf meinem Teller aus und drohte überzuschwappen. Einer der Knödel rutschte mir von der Gabel und knallte auf einen anderen, bevor er in der Soße landete und mir braune Spritzer auf dem himmelblauen Pulli bescherte. »Planetenschwerkraft«, erklärte ich meiner Mutter, die ungläubig den Kopf schüttelte. Und sauer war.

 

Danach ging ich zu Miriam. Sie war so etwas wie ein Mädchenkumpel. Die Hausaufgaben ließ ich erst mal sein, es gab Wichtigeres. Als ich ans Ende unserer Straße kam, spielte sie mit Moni und der Mülltonne Gummi-Twist. Ich kapierte dieses Spiel nicht, aber als ich sah, wie sich das Gummiband zwischen Miriam und der Mülltonne ausdehnte, wurde mir ganz flau im Magen. Ich hatte ja auch kaum was drin, weil meine Mutter nach weiteren Planetenunfällen den Teller weggeräumt hatte. »Mit Essen spielt man nicht«, hatte sie geschimpft. Ob sie dann das Essen nach Afrika schickte, wo die Kinder froh drüber wären, weiß ich nicht. Meine Mutter machte manchmal komische Sachen.

 

Moni verzog sich, sobald ich auftauchte. Sie wohnte im selben Haus wie ich, nur einen Stock tiefer. Aber sie konnte mich nicht leiden. Nachts meinte ich manchmal zu spüren, wie sie in ihrem Bett unter mir lag und gar nicht nett zu mir hochdachte. Das machte mich richtig zappelig, und ich wünschte sie auf den Mond. Moni im Mond. Da musste ich jedes Mal grinsen und schlief ein.

 

Miriam unterhielt sich eben viel lieber mit mir – über die wichtigen Dinge. »Mein Lieber«, nannte sie mich dabei gern und lächelte nett. Manchmal bot sie mir auch einen Kaugummi an. Einmal sogar einen, den sie schon vorgekaut hatte, bei unserer »Speichelbrüderschaft« damals. Blut konnte sie nicht sehen, da zog es ihr den Boden weg.

Ich zog sie zur Seite, obwohl Moni außer Hörweite war.

 

»Das Universum stürzt ein«, verkündete ich.

 

Große Augen bei Miriam. »Echt? Wann denn?«

 

»Bald.«

 

»Und woher weißt du das?«

 

»Von Dorian.«

 

»Oh.«

 

Sie machte eine Kaugummiblase und ließ sie platzen. Dann fragte sie mit rosa Fetzen unter der Nase, als ob es da noch was zu verhandeln gäbe: »Aber nicht vor Weihnachten, oder?«

 

»Ich fürchte doch!«

 

»Ausgerechnet«, jammerte sie. »Ich wollte heute Abend einen großen Wunschzettel aufs Fenstersims legen.«

 

Ich schaute sie entgeistert an. »An so was glauben SECHSJÄHRIGE! Frag Dorian.«

 

Nun wurde sie ärgerlich. »Dorian, der Blödian! Macht einem alles kaputt. Mir egal, was er sagt. Weihnachten ist viel zu schön, um einzustürzen. Also, tu was dagegen!«

 

Dann ließ sie mich stehen und drückte ihre Haustür auf. Tu was dagegen, schallte es mir im Ohr. Den ganzen Weg bis nach Hause. Tu was dagegen!

 

Ich zählte die Schritte, das tat ich oft, es waren 87. Tags zuvor waren es noch 88 gewesen. Hm, das konnte bedeuten, dass das Universum aufgehört hatte, sich auszudehnen. Bald würde das große BLUB kommen.

 

Als ich im Bett lag, um mich herum war es dunkel wie im kalten Weltall, hörte ich wieder dieses Tu was dagegen! Aber jetzt war es so, als ob es sich im Zimmer ausdehnte, von den Wänden abprallte und wie Ping-Pong-Bälle durch den Raum flitzte. Und ich mittendrin.

 

Ja, ich musste was tun. Vor allem über meinen Schatten springen. Sonst würde Miriam bald mit Moni die wichtigen Dinge bereden, und das wollte ich eigentlich nicht.

 

Also knipste ich das Licht an und ging zum Schreibtisch hinüber. Auf dem großen Wandkalender zählte ich die Tage bis Heiligabend und kam auf zehn. Am Vortag waren es noch elf gewesen. Ein weiteres Zeichen. Es wurde ernst.

 

Ich nahm einen Zettel und schrieb mit rotem Filzstift etwas darauf, das ich dick unterstrich und mit zehn Ausrufezeichen versah. Dann schlich ich mich aufs Klo, an der tickenden Wanduhr vorbei, stieg auf die Schüssel und öffnete das Fenster. Ein eisiger Wind fegte herein. Schneeflocken wirbelten um meine Nase, und der bleiche Mond zwinkerte mir verschwörerisch zu. Dorian hatte recht behalten.

 

Ich legte den Zettel aufs Sims, ohne ihn zu beschweren. Sollte der Wind ihn mitnehmen – dorthin, wo er gebraucht wurde. Vielleicht konnte er so die Welt retten.

 

Am nächsten Tag war er weg. Prima. In der großen Pause machten wir eine Schneeballschlacht. Dorian war nicht dabei, er hatte einen dicken Schnupfen und hohes Fieber. Sein schmächtiger Körper vertrug keine Kälte. Aber Miriam kam auf mich zu, ihre blonden Haare quollen wie Stroh unter einer tannengrünen Strickmütze hervor. Ihr Blick war rosa wie die Kaugummiblase vor ihrem Mund.

 

»Blobb«, machte sie. Ein wunderschönes Lächeln aus Kaugummifetzen folgte. »Jetzt hast du einen Wunsch frei, mein Lieber.«

 

Ich kapierte nichts. Sie verstand das sofort und reichte mir den Zettel vom Fenstersims. Die Schrift war etwas verlaufen, aber es war meine. Miriam kannte den Text auswendig:

 

Liebes Christkind,

bitte lass das Universum nicht einstürzen und erfülle Miriam alle Wünsche, die auf Ihrem Zettel stehen!!!!!!!!!! Ich werde auch nicht mehr mit dem Essen spielen oder Monika auf den Mond wünschen. Mehr kann ich gerade nicht versprechen, sonst müsste ich nochmal über meinen Schatten springen. Geht das überhaupt? Hochachtungsvoll – M.s Freund (7)

 

Moni hatte in derselben Nacht einen Zettel aufs Fenstersims gelegt, und der Wind hatte meinen Zettel zu ihrem herabgeweht. So hätte es Dorian erklärt. Aber Zettel fallen nicht einfach so einen Stock tiefer. Das tun nur besondere Zettel – Weihnachtswunschzettel gehören dazu. Und weil der Wunsch so stark war (zum Beispiel mit zehn Ausrufezeichen), musste ihn Moni morgens finden und zu Miriam bringen. Obwohl ja nicht draufstand, von wem er war. Aber Moni war nicht blöd. Sie konnte sich denken, dass der Zettel kaum mit den Schneeflocken vom Himmel gefallen war.

 

Moni. Hm … Wer hätte das gedacht? Da hatte ich wieder ordentlich was zu grübeln abends im Bett. Ans Universum dachte ich bald nicht mehr.

 

Der Schnee blieb bis nach Weihnachten, dann schmolz er weg. Dorian kurierte seinen Schnupfen aus und wechselte danach auf die Hochbegabten-Schule. Ich dagegen lernte Gummi-Twist. Miriam und Moni waren jetzt mein Blub und mein Bäng.

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke