Kim Amber: Die Idiotenflüsterin

Es hatte keinen Zweck. Die Tür blieb verschlossen.Ellen Kant nahm den Daumen vom Klingelknopf. Sie trat zurück auf die Straße und blickte hinauf. In der Wohnung über dem chinesischen Restaurant schien alles ruhig. Die Vormittagssonne spiegelte sich in den Fensterscheiben, dahinter schimmerten die herunter gelassenen Rollos.

Also gut, dachte sie. Dann eben auf die harte Tour.

Sie blickte sich um. Es war niemand auf der Straße. Auch das Restaurant war noch geschlossen, alles schien wie ausgestorben. Sie ging eilig zur Toreinfahrt, schlich in den Innenhof und sah sich dort um. Die Rückseite des Hauses war nicht weniger hässlich als seine Front. Grau und schäbig, ein typischer Sozialbau aus den 70ern.

 

Eine fensterlose Ziegelkonstruktion, offenbar dem Restaurant zugehörig, ragte wie eine alte

Garage in den Hof hinein. Sie war mit Dachpappe abgedeckt und reichte bis zu einer Mauer, die an das Nachbargrundstück grenzte.

Perfekt!, dachte Ellen und ging darauf zu. Sie stieg auf eine Mülltonne, kletterte von dort auf

die Mauer und weiter aufs Restaurantdach. Das erste Stockwerk des Mietshauses lag nun auf

Brusthöhe. Eines der Fenster stand sperrangelweit offen. Besser konnte es nicht laufen, dachte sie und schlich vorsichtig sie über die Dachpappe zur Hauswand.

 

Ein Vorhang aus imitiertem Kuhfell wehte in dem offenen Fenster, dahinter war alles still.

Sie schob das Fell ein Stück beiseite und spähte hinein. In dem Raum herrschte ein entsetzliches Chaos. Ein Wirbelsturm musste hindurch gefegt sein. Zerbeulte Pizzakartons, Jeanshosen, Bücher, Bierflaschen, CDs, Aschenbecher – alles lag wild durcheinander. Mittendrin ein riesiges Bett. Zahllose Kissen und Decken bildeten einem Haufen, darunter zeichnete sich ein zusammengerollter Körper ab.

 

Behutsam kletterte sie über die Fensterbank und sprang in den Raum hinein. Unter ihrem Fuß

zerbrach eine CD-Hülle. Sie stieß einen leisen Fluch aus, dann ging sie zum Bett und hob die

Decke. Auf der Matratze lag ihre ehemalige Bürohilfe Sebastian Dünow. Er schlief

ruhig und entspannt. Offenbar hatte ihn nichts wecken können, nicht einmal die laute Türschelle.

 

Mit einem Kopfschütteln packte Ellen seine Schulter und rüttelte ihn. „Sebastian! Aufwachen!“

 

Er begann sich zu regen. Widerwillig.

 

Sie rüttelte ihn fester. Er seufzte, griff mit geschlossenen Augen nach ihrem Arm, zog ihn

ins Bett und schmiegte sich an ihn. Ein sanftes Lächeln trat in sein Gesicht.

 

„Aufwachen!“, wiederholte sie, diesmal etwas lauter. „Ich bin’s! Ellen!“

Ganz langsam öffnete er die Augen und sah zu ihr auf. Sofort ließ er den Arm fallen, rückte ab und zog sich die Bettdecke ans Kinn. „Ellen!“, sagte er. „Was ...?“

 „Ich habe Sturm geschellt.“ Sie sah verwundert auf ihren Arm, der wie ein Fremdkörper auf

dem Kopfkissen lag. „Aber offenbar hast du überhaupt nichts davon mitgekommen.“

 Er blickte sie verständnislos an. Doch dann schien ihm etwas klar zu werden, und er pulte kleine Wachskügelchen aus seinen Ohren. „Was hast du gesagt?“

Sie stieß einen Seufzer aus. „Dann muss ich mich ja nicht wundern, dass du die Klingel nicht hörst.“

 

„Bist du etwa übers Dach gekommen?“

„Natürlich bin ich das. Es war auch nicht weiter schwer. Eines Tages wirst du noch von einem

Einbrecher überrascht werden“, sagte sie. Mit einem Blick auf ihren Arm fügte sie hinzu: „Aber vielleicht ist es genau das, wovon du heimlich träumst.“

 Er lief rot an. „Was machst du eigentlich hier?“ Umständlich wickelte er die Bettdecke um seinen Oberkörper und griff nach den Zigaretten auf seinem Nachttisch. „Mich so zu erschrecken!“ Er ließ ein Streichholz aufflammen und zündete sich eine an.

Sebastian Dünow war in Ellen Kants Detektei für Büroarbeiten zuständig gewesen. Korrespondenz, Terminplanung, Kaffeekochen. All diese lästigen Dinge, die sie so ungern selbst erledigte. Doch dann hatte sich die Auftragslage zunehmend verschlechtert, und irgendwann konnte sie ihn einfach nicht mehr bezahlen. Sie hatte ihm kündigen müssen.

 

Bevor sie nun ihr Auftauchen erklären konnte, ergriff er selbst das Wort. „Du hast wieder einen Job für mich“, stellte er nüchtern fest. „Und zwar einen, der so miserabel bezahlt ist, dass niemand sonst blöd genug wäre, ihn anzunehmen.“

 

Verwundert blickte sie auf. Sie hatte gehofft, zunächst ein wenig über alte Zeiten plaudern zu

können, bevor sie dann versuchen wollte, ihm die Arbeit schmackhaft zu machen.

 

Er zog einen Aschenbecher heran und schnippte die Asche ab. „Du hättest dich ruhig einmal melden können“, beschwerte er sich. „Ich dachte, wir wären Freunde. Wir wollten doch mal ein Bier zusammen trinken oder ins Kino gehen. Erinnerst du dich? Du hast nie zurückgerufen. Über ein Jahr ist das jetzt her, dass ich nicht mehr für dich arbeite.“

 

Ellen hatte schon mit so etwas gerechnet. Da sie keine echte Entschuldigung vorzubringen hatte, bemühte sie sich um ein versöhnliches Lächeln. „Du weißt doch, wie das ist“, sagte sie. „Die Arbeit wächst einem über den Kopf, und dann sind da noch Susanne und die Zwillinge, die mich in Anspruch nehmen. Da kippt manchmal einiges hintenüber, obwohl man es gar nicht will. Es tut mir wirklich Leid.“

 

Er blies den Rauch in die Luft und fixierte sie. Offenbar war er noch nicht bereit, Gnade walten

zu lassen. „Nun gut“, sagte er kühl. „Du brauchst also wieder eine schlecht bezahlte Bürohilfe. Jemand, der Kaffee kocht und Mahnungen schreibt und die Klienten bei Laune hält, falls du dich wieder mal verspätest.“

 

Sie zögerte. „Na ja, so in etwa.“

Sein Misstrauen war geweckt. „In etwa?“

Sie entschloss sich, es kurz und schmerzlos zu machen. „Es geht dabei eher um einen Außeneinsatz“, sagte sie. „Ich muss jemanden in eine Gruppe einschleusen, um Informationen zu erhalten. Ein unbekanntes Gesicht.“

 

Die Zigarette wäre ihm beinahe ins Bett gefallen.

 

„O nein!“ Er winkte mit beiden Händen ab. „Nein, nein, nein. Auf gar keinen Fall! Das kannst du dir sofort wieder aus dem Kopf schlagen.“

 

Ellen war schon einmal in der misslichen Lage gewesen, niemanden außer Sebastian für einen solchen Außeneinsatz zur Verfügung gehabt zu haben. Damals hatte sie ihrer Bürohilfe insgeheim nicht sehr viel zugetraut. Doch dann hatte er sich nach anfänglichen Schwierigkeiten besser geschlagen, als sie es angenommen hätte, und nicht zuletzt wegen seiner Mithilfe hatte sie es am Ende geschafft, den Fall zu lösen.

 

„Es wäre doch nicht das erste Mal“, sagte sie. „Erinnerst du dich an die Ermittlung, in der

du getarnt als Sozialarbeiter in diese Schule gegangen bist? Es hat doch ganz hervorragend

funktioniert.“

Ganz hervorragend war vielleicht ein bisschen übertrieben, dachte sie. Doch für seine Verhältnisse stimmte es wiederum. „Du bist wie gemacht für diese Art Einsätze“, fügte sie hinzu.

„Ich mache die Post und gehe ans Telefon. Punkt. Alles andere kommt nicht in Frage.“

Ellen holte Luft um etwas zu erwidern, doch er kam ihr zuvor. „Denk erst gar nicht darüber nach! Ein zweites Mal lasse ich mich nicht von dir bequatschen.“ Er schnippte eine Spur zu hektisch Asche ab und zog wieder an der Zigarette.

 

„Wir waren doch ein super Team.“ Sie stieß ihm leicht in die Seite. „Und es war eine tolle Zeit,

nicht wahr? Wir zwei Schulter an Schulter. Da hatte niemand eine Chance. Keiner konnte gegen uns agieren – wenn wir nur zusammenhielten. Erinnerst du dich?“

 

Sie merkte, dass er sich gegen seinen Willen geschmeichelt fühlte. Na also!, dachte sie. Ein

Anfang. „Und dieses Mal wäre es auch viel weniger gefährlich“, schob sie hinterher. „Und um einiges einfacher. Du müsstest nicht in einer Schule unter falscher Identität arbeiten. Diesmal wärest du in einer Bar, als Keeper. Das liegt dir doch, nicht wahr? Da musst du dich nicht verbiegen.“

 

Sie hielt die Zeit für gekommen, ihren Trumpf aus dem Ärmel zu ziehen. „Du kennst doch das Kate’s, nicht wahr?“, fragte sie beiläufig. Eine Nachtbar in Kreuzberg, von der Ellen wusste,

dass sie zu seinen Lieblingskneipen gehörte. Irgendwann einmal hatte er ihr gestanden, dass er insgeheim davon träumte, einmal in so einer Bar zu arbeiten.

 

Sein Blick war undurchdringlich. „Das Kate’s?“, fragte er.

 

„Ganz genau. Du würdest dort als Barmann arbeiten.“ Sie lächelte. „Da kommt nicht jeder

hinter die Theke, das weißt du natürlich. Das müssen schon Persönlichkeiten sein, die da

arbeiten. Für dich wäre es eine ganz einfache Sache: Du musst dir nur was Scharfes anziehen,

dich hinter die Bar stellen und Getränke machen. Kein Problem also. Außerdem wirst du dich nicht retten können vor Angeboten. Jeden Abend werden dich dutzendweise süße Typen angraben, davon bin ich überzeugt.“

 

Sein Widerstand schien endgültig gebrochen. Lediglich eine leichte Skepsis blieb. Doch auch

damit würde sie fertig werden.

 

„Wie willst du mich denn da reinschleusen?“, fragte er. „Bestimmt bewerben sich da eine Menge Leute, die viel mehr Erfahrung haben als ich.“

„Du bekommst eine Empfehlung“, sagte sie und konnte ihren Stolz nicht ganz verbergen. „Das

habe ich bereits organisiert.“

„Aber wie ...?“

Sie lächelte zufrieden. „Ich wusste ja: Das Kate’s sucht momentan eine Barkraft. Nun kenne ich den Inhaber des Kumpelnests in Tiergarten sehr gut, und der wiederum ist dick mit dem Chef vom Kate’s. Der Typ aus dem Kumpelnest war mir noch was schuldig, also hat er dafür gesorgt, dass du der neue Barmann im Kate’s werden kannst.“

 

Die Idee begann ihm zu gefallen. Ellens Kalkül war aufgegangen. Sie wusste: Seit er einen halben Sommer im Kempinski auf der Terrasse gekellnert hatte – natürlich nur solange, bis man ihn rausgeworfen hatte –, war er der Meinung, dass in ihm ein guter Gastronom schlummerte, der nur darauf wartete, sich beweisen zu können. Wenn er dazu noch in eine der angesagten Nachtbars käme ...

 

„Was soll ich denn da für dich tun?“, fragte er in dem Bemühen, keine Begeisterung in seine

Stimme zu legen.

„Das sage ich dir, wenn es soweit ist. Ich muss zuvor noch ein paar Recherchen anstellen. Du

sollst dich erst einmal nur einarbeiten und Augen und Ohren offen halten. Alles weitere wird sich später zeigen.“

 

Sie glaubte zu sehen, dass er in Gedanken bereits hinterm Tresen stand. Es war also doch leichter gewesen, als sie gedacht hatte.

 

Er gab sich, als müsse er noch darüber nachdenken. „Mir bedeutet es nichts, von irgendwelchen Typen angemacht zu werden“, sagte er bedachtsam. „Schließlich habe ich einen Freund. Ich will nur, dass du das weißt. Auch wenn Hugues zur Zeit in Frankreich ist, so heißt das nicht, dass ich ihm nicht treu bin.“

„Aber klar“, sagte Ellen schnell. „Sicher. Das weiß ich doch.“

„Worum geht es bei dem Fall?“, fragte er. „Ein Mord?“

Sie kamen also endlich zur Sache. „Ja genau. Es geht um einen Mord. Du erinnerst dich vielleicht an die junge Frau, die neulich in Kreuzberg auf der Skalitzer Straße unter der Hochbahn ausgeraubt und erstochen wurde?“

„Irgendwas habe ich da im Radio gehört, kann schon sein.“

„Diese Frau hieß Sandra Köhler, und sie hat im Kate’s gearbeitet. Der Überfall ist morgens um

halb sieben passiert, sie war auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Es war ein Sonntag, deshalb war nicht viel los auf den Straßen.“

 

Sie blickte sich in dem unordentlichen Zimmer um. „Aber wie wär’s, wenn du uns einen Kaffee kochst?“, fragte sie. „Dann können wir den Rest in der Küche besprechen.“

 „Also gut, besprechen wir alles in Ruhe.“ Er machte eine kreisende Bewegung mit dem Finger.

„Aber du musst dich zur Wand drehen. Damit ich mir Unterwäsche anziehen kann.“

 

Mit einem Schulterzucken wandte sie sich ab, und er schlug die Decke zurück. „Aber die haben doch einen Mörder, oder etwa nicht?“, fragte er, während er in seine Boxershorts stieg. „Zumindest habe ich so etwas gehört. Ein türkischer Drogendealer, der für ein paar Euro bereit ist, Leute abzustechen.“

 

Ellen drehte sich wieder um und blickte ihn an. „Ganz genau“, sagte sie und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Und dieser türkische Drogendealer ist auch derjenige, der mir den Auftrag erteilt hat ..."

 

© konkursbuch Verlag Claudia Gehrke